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Diskussion: Zeigt der Blick von außen, wo die Probleme der Schule liegen?

BERLIN. VERA, Schulstatistik und die Schulinpektion gelten unter Lehrern als Folterwerkzeuge einer wildgewordenen Bildungsverwaltung. Tatsächlich gab es eine Zeit ohne – vor dem PISA-Schock existierte (bis auf das Zentralabitur in einigen Bundesländern) praktisch keinerlei Kontrolle von Unterrichtsergebnissen. Ein paradiesischer Zustand? Oder letztlich doch die Ursache für das schlechte Abschneiden der deutschen Schulen im damaligen Leistungsvergleich? Mit dem folgenden Gastbeitrag von Gerd Möller, einem ehemaligen leitenden Mitarbeiter des Schulministeriums von Nordrhein-Westfalen, eröffnen wir die Diskussion: Wird die Sau auch ohne Wiegen fett? Dies ist Teil zwei des Beitrags.

Hier geht es zu Teil eins.

Schulen werden beobachtet – und evaluiert. Gut so? Foto: Shutterstock

Evidenzbasierte Steuerung im Schulbereich: Anspruch und Wirklichkeit

Chancen und Grenzen empirischer Bildungsforschung, Teil zwei

Von Gerd Möller

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Mit verschiedenen Evaluationsinstrumenten können potenziell unterschiedliche Wissensformen gewonnen werden, die in der Wissenschaft – mit geringen Abweichungen zwischen verschiedenen Autoren – nach den Handlungsmöglichkeiten in der Bildungspraxis und – politik unterschieden werden, wobei fließende Übergänge in Wissensquellen nicht ausgeschlossen werden:

  1. Beschreibendes Diagnosewissen

Dieses Wissen kann z.B. aus Lernstandserhebungen, Amtlichen Schuldaten, zentralen Prüfungen gewonnen werden. Stand, Entwicklungen und Ergebnisse können auf System- und Praxisebene mit Hilfe von Indikatoren und deskriptiver Statistik beschrieben werden. Dieses Wissen kann genutzt werden, um Stärken, Schwächen und Handlungsbedarf zu identifizieren.

  1. Erweitertes Diagnosewissen

Entsteht aus Metaanalysen wie z.B. der Hattie-Studie, Befunden der Schuleffektivitätsforschung, vertiefenden empirischen Analysen z.B. in Erweiterung zu den nationalen und internationalen Vergleichsstudien (siehe COACTIV-Studie). Zusammenhänge und mögliche Bedingungsfaktoren können mit Hilfe komplexer statistischer Modellierungen erkundet bzw. vorausgesagt werden (z.B. Pfadmodelle mit verschiedenen Einflussfaktoren auf die Zielfaktoren).

  1. Erklärungswissen (system- oder schul- und unterrichtsbezogen)

Erklärungswissen liefert Gründe für festgestellte Effekte. Es entsteht z.B. aus Längsschnittstudien oder spezifischen experimentellen Studien. Wirkungen bestimmter Einflussfaktoren und Maßnahmen können so identifiziert und beziffert werden.

Zusammenhänge und Bedingungsmuster auf System-, Schul- und individueller Ebene können hierdurch erklärt wer­den. Dies erlaubt sowohl auf der System- als auch Praxisebene, Ursachen von Befunden und Folgen von Maßnahmen zu bewerten („knowing how it works“).

  1. Kriterienbezogenes Bewertungswissen

Ist z.B. aus Berichten der Schulinspektionen zu gewinnen. Anhand von standardisierten Beobachtungsverfahren können anhand der Kriterien des Qualitätsrahmens Expertenurteile und -beobachtungen an die Schulen rückgemeldet werden. Die rückgemeldeten Beobachtungsergebnisse liefern den Schulen Ansatzpunkte, ihre Arbeit aus der Sicht von außenstehenden Experten zu reflektieren und mit den eigenen Erfahrungen zu kontrastieren. Dies bedarf eingehender Interpretationen und Diskussionen der Ergebnisse durch die schulischen Akteure.

  1. Handlungs- oder Veränderungswissen

Handlungs- oder Veränderungswissen beruhen auf dem Nachweis der Effekte von Manipulationen und Interventionen. Handlungs- oder Veränderungswissen sind danach die Wissensformen mit der größten Affinität zum schulpraktischen und bildungspolitischen Handeln.

Es ist in der Wissenschaft und Wissenschaftstheorie aber umstritten (vgl. Dewe, 2004), ob es überhaupt direkt verwendbares Veränderungswissen geben kann. Bromme/Kienhues (2014, S. 60) stellen fest, dass es nur „einen indirekten Zusammenhang zwischen Theorien und Daten, die Sachverhalte beschreiben und erklären (Beschreibungs- und Erklärungswissen), und solchen, die gezielte Veränderungen im Sinne von Interventionen begründen (Veränderungswissen;…)“, gebe.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler, die sich in der Problembeschreibung und Problemerklärung einig sind, zu unterschiedlichen und widersprüchlichen Interventionsempfehlungen kommen. Prominent sind hier die unterschiedlichen Empfehlungen, wie man auf der Schulsystemebene mit der sozialen Kopplung der Lernleistungen umgehen soll.

Trotz dieser Einschränkungen können sowohl auf System- als auch auf Praxisebene Evaluationsbefunde aber handlungsleitend für geplante Veränderungen von den jeweiligen Akteuren genutzt werden, indem z.B. Wirkungen und Folgen bestimmter implementier­ter Maßnahmen identifiziert werden und somit Handlungsoptionen für Schul- und Unterrichtsentwicklungen abgelei­tet werden können („knowing what works“). Hierbei muss aber beachtet werden, dass sich die „What works-Befunde“ stets auf die Vergangenheit bzw. Gegenwart mit speziellen Kontextbedingungen beziehen. Ob die aus den Befunden abgeleiteten Handlungsstrategien zukünftig unter anderen Bedingungen auch funktionieren, muss prinzipiell offen bleiben.

Welches nutzbare Wissen aktuell verwendete Evaluationsinstrumente tatsächlich bereitstellen, soll abschließend am Beispiel der Lernstandserhebungen genauer betrachtet werden.

VERA-Vergleichsarbeiten, die lediglich deskriptives Wissen liefern, haben im Gegensatz zu den auf Stichproben basierenden Vergleichsstudien den Vorteil, dass sie durch die inhaltliche Anbindung der Tests an die gültigen curricularen Vorgaben flächendeckend den Schulen rückmelden, welche Leistungen in den getesteten Fächern erreicht wurden. Darüber hinaus können sich die Einzelschulen mit anderen Schulen mit ähnlichen Ausgangsbedingungen vergleichen und einordnen. Detaillierte Auswertungen der erreichten Kompetenzstufen eröffnen die Möglichkeit für die Schulen, die Verteilung der Kompetenzen in den einzelnen Lerngruppen zu erkennen. Selbst auf der Ebene einzelner Aufgaben (Lösungshäufigkeit) können Stärken und Schwächen sowohl kriterial als auch im Vergleich mit anderen Lerngruppen und Schulen ausgemacht werden.

Neben den Rückmeldungen der Klassen- und Schulleistungen bieten die Lernstandserhebungen anhand der individuellen Aufgabenbearbeitungen die Möglichkeit, Stärken und Schwächen einzelner Schülerinnen und Schüler durch einen gezielten Blick auf die einzelne Schülerbearbeitung zu diagnostizieren. Die Rückmeldungen aus Lernstandserhebungen stellen also ein umfangreiches Diagnosewissen über den Ist-Stand des Lernerfolgs dar. Sie liefern allerdings kein direktes Erklärungswissen (knowing why) bzw. Handlungswissen (knowing how). Dies können die Schulen nur selber in eigenen Reflexions- und Rekontextualisierungsprozessen auf der Basis der Rückmeldungen und ihres Erfahrungswissens generieren, d.h. sie müssen die Informationen mit unterschiedlichem Sinn versehen und darüber in das eigene Aufmerksamkeits‑und Urteilsverhalten integrieren (vgl. Fend 2008). Hierzu benötigen die Schulen allerdings mehr Unterstützung als bisher.

Fazit

In weiterem Sinne kann auch deskriptives Wissen durchaus handlungsrelevant sein, weil es zeigt, wo die Probleme liegen. Handlungs- bzw. Veränderungswissen im engeren Sinne, das sowohl von der Bildungspolitik als auch der Praxis nachgefragt wird, liefert die Bildungsforschung zumindest aktuell nicht. Benötigt werden hier in Zukunft Transfer- und Implementationsstudien. Solche Studien sind aber im experimentell schwer kontrollierbaren Mehrebenengefüge von Wirkfaktoren und deren Interaktionen in institutionellen Lehr-Lern-Kontexten nur näherungsweise zu realisieren. Die Implementation einer konkreten Interventionsmaßnahme trifft auf unterschiedliche Konstellationen von sozialer und ethnischer Schülerzusammensetzung, Lehrerkompetenz, materieller Ausstattung der Schule, vorhandenen Unterstützungssystemen, etc. Es ist dann aufgrund unterschiedlicher Kontexte nur schwer entscheidbar, was genau wirkt bzw. welche Faktoren ein Wirksamwerden der Intervention behindert (vgl. Berliner, 2002).

Für Pant (2016) ist die Frage „Wie kann die Bildungsforschung Wissen erzeugen, das für die Praxis nutzbar ist?“ wahrscheinlich sogar falsch gestellt. Es müsse eher gefragt werden: „Wie kann ein Lernprozess organisiert werden, der über die Einzelschule hinaus reicht und der einer kooperativen Entwicklungslogik folgt und die kollektive Verbesserung von Lernkapazität als Ziel definiert?“

Hier geht es zu Teil eins des Beitrags.

Beispiele für Erhebungsinstrumente zur Wissensgenerierung

Auf der Ebene der Einzelschule

  • Schulstatistik (Amtliche Schuldaten) mit diversen Indikatoren, wie Wiederholerquoten, Schulformwechsler, Übergangsquoten, Schulabschlüsse
  • Zentrale Prüfungen: ZP 10 und Abitur
  • Zentrale Lernstandserhebungen VERA 3 und 8
  • Qualitätsanalyse
  • Interne Evaluationen

Auf Systemebene

  • Schulleistungsstudien, wie PISA, IGLU, TIMSS, IQB-Ländergleiche
  • Vertiefende und ergänzende Studien auf der Basis von Schulleistungsstudien, wie z.B. COACTIV
  • Nationale und internationale Studien mit spezifischen Untersuchungszielen, z.B. Studien der Schuleffektivitätsforschung

Literatur

Star-Bildungsforscher Hattie im News4teachers-Interview: “Es gibt nicht ‘die’ Unterrichtsmethoden, die per se eine hohe Wirksamkeit haben”

 

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