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Der Machtmechanismus Kindzentrierung – Wie Tyrannenkinder gemacht werden

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KARLSRUHE. Der Erziehungsnotstand geht um: Helikoptereltern und „Tyrannenkinder“ machen Lehrern das Leben zunehmend schwer. Die Karlsruher Soziologin Désirée Waterstradt sieht spezifische Machtdynamiken hinter der Entwicklung, unter der im Übrigen auch die Kinder leiden.

Gesellschaft, Medien und Erziehungsratgeber diskutieren immer wieder von neuem, ob und in welchem Maße das Kind im Zentrum der Familie stehen sollte. Werden Kinder Tyrannen? Ist die Bindung zu ihren Eltern nicht stark genug? Ist mehr Autorität nötig, oder weniger? Im Kern solcher oft emotional geführten Debatten stehen meist Machtdynamiken, die sich rund um das Kind entwickeln und eigenen Gesetzen folgen. Darauf macht die Soziologin Désirée Waterstradt von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe aufmerksam.

Kinder als personifizierte Unschuld zu betrachten tut ihnen nicht gut. Foto: vsbonvenuto/Pixabay (P.L.)

„Konkurrenzdynamiken rund ums Kind können nicht nur in Familien eskalieren, sondern auch zwischen Experten und Institutionen“, erklärt Waterstradt, Assoziiertes Mitglied des Instituts für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft. Mit dem Wettbewerb ums Kind habe sich ein stabiler, eigendynamischer Konkurrenzmechanismus entwickelt, ähnlich der Situation in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft.

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Erstmals beschrieben worden seien solche Machtdynamiken vor mehr als 80 Jahren durch den Soziologen Norbert Elias in seiner Studie zur Entwicklung der Königsposition in der Höfischen Gesellschaft. Mit Königsmechanismus bezeichnet Elias einen Mechanismus der Vormachtstellung: Wie von selbst führen Konkurrenzdynamiken von einer Konstellation freier Konkurrenz zur Zentralisierung der Verfügungsgewalt.

Die Ausbildung eines speziellen Konkurrenzmechanismus ums Kind – genannt „Kindchenmechanismus“ – hat Waterstradt bereits 2015 beschrieben. In einer Studie legt sie dar, dass die zwingende Eigendynamik von Machtprozessen am Beispiel der Kindzentrierung besonders deutlich wird. Erst durch die Konkurrenz von Erwachseneninteressen entstehe die relativ stabile Zentralposition des Kindes – quasi von selbst und ohne Zutun des Kindes.

„Besonders deutlich wird es bei einem Säugling, der alle auf Trab hält und aber nichts anderes macht, als alle anderen Säuglinge vor ihm in der Menschheitsgeschichte. Bildlich gesprochen: Ein Wirbelsturm entsteht auch nicht im Auge des Sturms, sondern durch die Thermik der Umgebung “, so Waterstradt.

Die so erlangte Zentalposition ist für Kinder alles andere als angenehm. Da Kinder entwicklungspsychologisch noch nicht die gleichen Fähigkeiten wie Erwachsene hätten, könnten sie die Zentralposition kaum angemessen ausfüllen. Den damit einhergehenden psychischen Belastungen seien sie weniger gewachsen als erwachsene Führungspersonen, die ja bewusst auf ihre Position hingearbeitet hätten.

Im Zentrum des Mechanismus stünden zudem nicht reale individuelle Kinder, sondern das abstrakte Symbol „Kind“. Das Symbolkind diene vor allem als wichtige Kategorie sozialer Ordnung. Ihm werde höchste moralische Integrität zugeschrieben, wodurch ihm ein besonderem Potential zur Emotionalisierung, Anklage und Aktivierung zukommt. Das Symbol „Kind“ gelte als Macht der Unschuld und diene Erwachsenen dazu, sich selbst moralisch zu profilieren, Anerkennung zu gewinnen und gegebenenfalls Außenseiter moralisch abzuwerten.

Der Begriff Kindzentrierung ist für Désirée Waterstradt ein machttheoretischer Schlüsselbegriff, der auf eine zentrale Position des Kindes hinweist. Schon in der Antike sei die Figur des göttlichen Kindes kultisch-religiös überhöht worden. Doch erst mit der Entwicklung von Nationalstaaten sei in westlichen Gesellschaften eine neuartige Konkurrenzarena entstanden: das nationale Interesse am Kind.

„Es entwickelten sich professionelle Privilegien und institutionelle Strukturen wie beispielsweise Schulen, Kindergärten, Jugendämter oder Familiengerichte. Die Lebensphase der Kindheit wurde mit Vorrechten ausgestattet. Zudem wurden Zuständigkeiten rund ums Kind geordnet und erneut vergeschlechtlicht“, so Waterstradt. Und weiter: „Zentrale Merkmale der Kindzentrierung sind die expertengeleitete Erziehung, die Professionalisierung, Institutionalisierung und Ökonomisierung rund ums Kind, die kindzentrierte Familie, der Vorrang von Kinderschutz und Kindeswohl sowie eine Teilidentität kindzentrierter Fürsorge beim Übergang zur Elternschaft für Frauen.“ (zab, pm)

• „Eine kurze Geschichte der Kindzentrierung“ – Hintergrundtext von Désirée Waterstradt

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