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Zu viele überforderte Schüler: Realschulen wollen Hauptschulabschluss loswerden

STUTTGART. Manche Kinder gehören nicht auf die Realschule, findet die Arbeitsgemeinschaft der Realschuldirektoren in Baden-Württemberg. Viele Eltern nutzen ihr zufolge die Entscheidungsfreiheit über den Bildungsweg ihrer Kinder nicht verantwortungsvoll – und meiden die Hauptschule. «Die Eltern versuchen es einfach einmal – ohne Rücksicht auf die Kinder.»

Viele Schüler kommen mit den Leistungsanforderungen der Realschulen nicht zurecht. Foto: Shutterstock

Die Leiter der Realschulen im Südwesten sehen angesichts überforderter Kinder in Realschulen keine Zukunft für den Hauptschulabschluss an ihrer Schulart. «Etwa ein Viertel der neuen Schüler haben nicht die passende Grundschulempfehlung und leiden darunter», sagte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Realschulrektoren Holger Gutwald-Rondot im Gespräch. Bei der Wahl der weiterführenden Schule haben die Eltern seit 2012/13 das letzte Wort – nicht mehr die Grundschullehrer.

Den Hauptschulabschluss können Schüler an unterschiedlichen Schulformen erwerben. Doch während Hauptschüler auf dem Weg zum Abschluss «grundständig», also auf einem einfacheren Niveau unterrichtet werden, erfolgt der Unterricht an Realschulen in den ersten zwei Schuljahren auf einem «mittleren Niveau» – unabhängig davon, welcher Schulabschluss später angestrebt wird.

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Das Kultusministerium zeigt Verständnis für die Realschulen

Durch Förderung könne noch etwa die Hälfte der Schüler ohne passende Grundschulempfehlung bis Ende der zweijährigen Orientierungsstufe auf das mittlere Niveau gebracht werden, erklärte Gutwald-Rondot.

Für viele Mütter und Väter sei es attraktiver, ihr leistungsschwächeres Kind auf die Realschule als auf die eigentlich passende Haupt- oder Werkrealschule zu schicken, sagte der Leiter der Kraichgau-Realschule in Sinsheim (Rhein-Neckar-Kreis). «Die Eltern versuchen es einfach einmal – ohne Rücksicht auf die Kinder.»

Das Kultusministerium und der Städtetag äußerten Verständnis für die Sorgen der Realschulen. Ministerin Susanne Eisenmann (CDU) sagte: «Von den Schwierigkeiten in der Orientierungsstufe höre ich schon seit längerem in zahlreichen Gesprächen mit Lehrkräften und Schulleitern vor Ort.» Den Gesprächspartnern sei eines gemein – «der Wunsch, die Grundschulempfehlung wieder verbindlicher zu regeln, da die hohe Heterogenität vor allem an den Realschulen eine enorme Herausforderung für die Lehrer darstellt». Auch eine Stärkung der Werkrealschulen stoße auf große Zustimmung bei den Realschulen.

“Jeder zehnte Schüler ist definitiv auf der falschen Schule”

Gutwald-Rondot sagte: «Jeder zehnte Schüler in der Orientierungsstufe der Realschulen ist definitiv auf der falschen Schule und wäre auf der Hauptschule besser aufgehoben.» Das führe oft zu Frust und auffälligem Sozialverhalten. Den Realschulen machten bereits diejenigen Schüler zu schaffen, die in der achten, neunten Klasse vom Gymnasium enttäuscht zu ihnen kämen. Deren Selbstbild sei zerstört und sie tendierten dazu, sich hinter ihrem Computer zu verkriechen. Auch bei den Realschulen gebe es Abwanderung, sofern Hauptschulen in der Nähe seien.

An den Realschulen gehen die Jungen und Mädchen freiwillig oder bei Nichtversetzung in die siebte Klasse in Richtung Hauptschulabschluss und werden dann «grundständig» unterrichtet. Sie absolvieren nach neun Schuljahren den Abschluss, ihre Mitschüler nach zehn Jahren die Mittlere Reife. Die Hauptschulen lehren durchgehend auf einem elementaren Niveau, die Gymnasien auf einem anspruchsvollen «erweiterten» Level. Das unter dem damaligen Kultusminister Andreas Stoch (SPD) beschlossene Angebot des Hauptschulabschlusses an der Realschule gilt seit dem Schuljahr 2016/17.

Die SPD-Landtagsfraktion wies darauf in, dass die Realschulen dies selbst gewünscht hätten. «Wer glaubt, durch eine Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung die pädagogischen Probleme zu lösen, ist auf dem Holzweg», sagte der SPD-Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei. Es brauche Konzepte, die die Unterschiedlichkeit der Schüler nicht als Bedrohung verstehen, sondern als Teil der sich verändernden gesellschaftlichen Realität.

Sandra Boser, bildungspolitische Sprecherin der regierenden Grünen, erklärte: «Es braucht keine verbindliche Grundschulempfehlung, sondern ein pädagogisches Angebot, das die Schwächeren erfolgreich auf ihren Abschluss vorbereitet.» Immerhin schaffe es die Hälfte der Schüler mit Hauptschulempfehlung, das mittlere Niveau zu erreichen.

An der Kraichgau-Realschule machen gerade erstmals 20 junge Menschen ihren Hauptschulabschluss. Sie bilden dort eine eigene Klasse, andernorts werden sie gemeinsam mit den Anwärtern auf den Realschulabschluss unterrichtet. In Sinsheim streben 136 Schüler im kommenden Schuljahr die mittlere Reife an.

“Verbindliche Grundschulempfehlung wieder einführen!”

Gutwald-Rondot sieht als Weg aus der Misere, die verbindliche Grundschulempfehlung wieder einzuführen und den Hauptschulabschluss nicht mehr an der Realschule anzubieten. Leistungsschwächere Schüler könnten dann von nahen Werkreal-, Haupt- und Gemeinschaftsschulen aufgenommen werden.

Der Städtetag pflichtete dem Schulleiter bei. «Wenn nur wenige der an Realschulen gestarteten Schüler dort den Hauptschulabschluss machen, weil viele vorher die Schule wechseln, stellt es den Sinn dieses Abschlusses an den Realschulen in Frage», sagte Städtetagsdezernent Norbert Brugger.

Laut Eisenmann werden diverse Lösungen diskutiert, darunter die Verkürzung der Orientierungsstufe auf ein Jahr und Lehre auf grundständigem Niveau von Anfang an. Auch der Vorschlag, den Hauptschulabschluss an der Realschule wieder abzuschaffen, sei im Gespräch. Sie warnte aber vor Schnellschüssen.

Die oppositionelle Landtags-FDP sieht sich in ihrer Kritik an der Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung durch die Schulleiter bestätigt. Sie habe die Sitzenbleiberquote in den unteren Klassen nach oben schnellen lassen, sagte Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Die verbindliche Empfehlung erleichtere die Bildung von Klassen aus Schülern mit vergleichbaren Begabungen. Seine Fraktion habe einen Gesetzentwurf in den Landtag eingebracht, um die Grundschulempfehlung wieder verbindlich zu machen.

In der von Gutwald-Rondot geführten Arbeitsgemeinschaft sind 328 Leiter der insgesamt 423 Realschulen in Baden-Württemberg vertreten. dpa

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