FRANKFURT/MAIN. Kinderärzte und Patientenorganisationen fordern die Belange von Familien mit chronisch schwer kranken Kindern und Jugendlichen in der Pandemie stärker in den Fokus nehmen.
Ein harter Corona-Lockdown soll mit strengen Maßnahmen Infektionen und Sterbefälle durch COVID-19 verringern helfen, von denen besonders ältere Menschen betroffen sind. Pädiater und Patientenorganisationen mahnen allerdings nun in einer öffentlichen Stellungnahme, dass in den vergangenen Monaten der Corona-Krise die Situation chronisch kranker Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien in der öffentlichen Diskussion nur sehr unzureichend berücksichtigt worden sei. „Bei Familien mit chronisch kranken Kindern ist die Furcht vor einer Coronavirus-Infektion und einer Gefährdung durch schwere Komplikationen oder gar Tod besonders groß“, stellt Kai Rüenbrink fest, Sprecher des Aktionsbündnisses Angeborene Herzfehler (ABAHF). Nach elf Monaten Pandemie blieben nach wie vor viele Fragen zum Schutz dieser Kinder und ihrer Familien offen und damit verbundene psychosoziale und sozialrechtliche Aspekte seitens der Politik ungeklärt. „Diese Menschen fühlen sich in ihrer Situation allein gelassen“, so Rüenbrink.
Potenziell seien in Deutschland nach Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) rund elf Prozent aller Mädchen und 16 Prozent aller Jungen unter 17 Jahren betroffen. Hierzu zählen beispielsweise Kinder und Jugendliche mit neurologischen und onkologischen Krankheiten oder auch solche mit Herzfehlern. „Aufgrund des klinischen Krankheitsbildes vieler dieser schweren Vorerkrankungen“, warnt der Kinderkardiologe Hans Heiner Kramer aus Kiel, “könne jedoch ein erhöhtes Komplikationsrisiko im Falle einer COVID-19-Erkrankung nicht völlig ausgeschlossen werden. Die mangelhafte Datenlage lasse derzeit noch keine konkreten Schlüsse zu, ob diese Vorerkrankungen bei Kindern analog zu den älteren Erwachsenen mit einem erhöhten Risiko eines schweren Krankheitsverlaufes einhergingen.
Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedizin betont: Nicht selten hätten Eltern ihre Kinder bisher hervorragend mittels Isolation durch diese Pandemie gebracht, allerdings auf Kosten einer altersadäquaten Entwicklung der Kinder und großer Einschränkungen für die betroffenen Familien. Ob die neuen Impfmöglichkeiten diese Familien entlasteten, sei noch unklar. Bis heute sei offen geblieben, ob und wann auch für alle Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren eine COVID-19-Impfung zur Verfügung stehen werde, da für diese eine Zulassung eines Impfstoffes noch ausstehe.
Diese Gruppe von rund 13,5 Mio. Menschen scheine vergessen, so die Deutsche Herzstiftung in einer Pressemitteilung, denn in der Kommunikation der Regierung über die Impfversorgung Deutschlands kämen sie bislang kaum vor. Da derzeit keine Zulassung der Impfstoffe für Kinder in Sicht sei, könnte die Pandemie für vorerkrankte Kinder noch sehr lange dauern. Forschung und Zulassungsstudien für kindgerechte COVID-19-Impfstoffe müssten daher nach Meinung der Experten dringend vorangetrieben werden.
Solange keine Impfungen für Kinder zur Verfügung stünden, bleibe zum Schutz gefährdeter Kinder nur die breite Impfung der Eltern und Betreuungspersonen. Eine vergleichbare Regelung gebe es bereits für die Kontaktpersonen von Schwangeren. Hier sei eine Anpassung der aktuellen Corona-Impfverordnung entsprechend der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) unumgänglich. Denn auch ärztliche Bescheinigungen würden derzeit in den Impfzentren nicht immer anerkannt. „Impfstoffe, die bereits ab dem Alter von 16 Jahren zugelassen sind, sollten sofort an alle Jugendlichen ab 16 mit schweren chronischen Erkrankungen verimpft werden“, fasst Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte die Forderung des ABHAF in Worte. „Wenn Kinder und Jugendliche, gerade chronisch kranke, nicht geimpft werden, ist ihre Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auf nicht absehbare Zeit massiv beeinträchtigt.“
Bedingt durch Kitas, Schulen, Erwerbsarbeit und Freizeitaktivitäten hätten Kinder und deren Familien typischerweise in ihrem Alltag eine Vielzahl von Außenkontakten, die nur mit größter Schwierigkeit zu begrenzen seien. Verbindliche Vorgaben seitens der Kultusministerkonferenz (KMK) zur sicheren Teilhabe chronisch kranker Kinder und auch ihrer Geschwister am Schulunterricht (Präsenz und online) seien daher konsequent umzusetzen, etwa die Ausweitung raumluftverbessernder Maßnahmen durch Stoßlüften, Spuckschutz und möglicherweise Luftfilteranlagen, die Versorgung mit für Kinder geeigneten Schutzmasken und eine klare Regelung zur Online-Beschulung. Zugleich fordern die Mediziner eine Öffnung der Coronavirus-Schutzmasken-Verordnung für Einzelfallentscheidungen.
Um Existenzängste in Zeiten der Pandemie zu verringern, bedürfe es einer Neuregelung von Schutzpaketen für berufstätige Eltern chronisch kranker Kinder, die auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf abzielen. Bisher reichten die Bemühungen keinesfalls aus, denn es dürfe nicht sein, dass Familien Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssten, wenn sie ihre chronisch kranken Kinder zu Hause betreuen. (pm)