BERLIN. Das Auftreten der Virusmutation B.1.1.7 hat für den Schulbetrieb womöglich drastische Konsequenzen: Selbst bei Wechselunterricht und Maskenpflicht – das zeigen aktuelle Berechnungen von Forschern der TU Berlin – können sich Schüler und Lehrer nicht länger als zwei Stunden in einem Klassenraum aufhalten, ohne dass die Ansteckungsgefahr unverantwortlich hoch wird. Ohnehin rechnen Wissenschaftler damit, dass sich in den nächsten Wochen viel mehr Jüngere anstecken werden.
Seit den Schulöffnungen im Februar und März läuft der Schulbetrieb in weiten Teilen Deutschlands im Wechselunterricht, um das Infektionsrisiko zu begrenzen. Tatsächlich entspricht dies den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) für Inzidenzwerte über 50, um die Abstandsregel in den Klassenräumen ermöglichen zu können. Gleichzeitig, so sieht es die Vorgabe der Kultusministerkonferenz vor, sollen Lehrer die Fenster alle 20 Minuten für mindestens drei bis fünf Minuten öffnen, um eine mögliche Aerosol-Belastung der Atemluft zu beseitigen.
Nach unserer Erkenntnis braucht man für B.1.1.7 nun 105 qm/h virenfreie Zuluft pro Person pro Stunde Aufenthalt, damit die Verdünnung so klein ist, dass sich max 1 Pers ansteckt. Mit MNS, 50% Klasse kann Unterricht dann ca 2 Zeitstunden stattfinden.
— Martin Kriegel (@KriegelMartin) March 27, 2021
Die RKI-Empfehlung sowie die (schon beim Erscheinen als unzureichend kritisierte) Lüftungsvorgabe der KMK stammen allerdings aus dem vergangenen Herbst – mittlerweile grassiert die deutlich ansteckendere Virusmutation B.1.1.7 in Deutschland. Und die hat Auswirkungen auch auf die Situation in den Schulen, wie der Physiker Prof. Martin Kriegel, Leiter des Hermann-Rietschel-Instituts für Energietechnik der TU Berlin jetzt auf Twitter deutlich macht.
Kriegel zufolge ist Wechselunterricht, selbst wenn von allen Personen im Raum eine Schutzmaske getragen wird, nur für zwei Stunden am Tag möglich. Aufgrund der Mutante sei nun deutlich mehr virenfreie Frischluft nötig, um einen möglichst sicheren Aufenthalt zu gewährleisten, als bei dem ursprünglichen Virus. Wörtlich schreibt Kriegel: „Um die Ansteckungsrate deutlich kleiner 0,5 zu bekommen, so dass sich wahrscheinlich keiner ansteckt, muss der Zuluftvolumenstrom nochmal drastisch erhöht werden.“ Das sei technisch aber praktisch unmöglich zu erreichen. Denn: „Nach unserer Erkenntnis braucht man für B117 nun 105 m3/h virenfreie Zuluft pro Person pro Stunde Aufenthalt, damit die Verdünnung so klein ist, dass sich max 1 Pers ansteckt. Mit MNS, 50% Klasse kann Unterricht dann ca 2 Stunden stattfinden.“
Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland schon wieder bei über 130, Tendenz stark steigend
Mittlerweile geht das Gros der Corona-Fälle in Deutschland auf den zuerst in Großbritannien nachgewiesenen Virustyp zurück. Und der gilt nicht nur als deutlich ansteckender als das ursprüngliche Virus, sondern er verursacht auch noch schwerere Krankheitsverläufe – selbst bei jüngeren Menschen.
Deswegen mahnen Experten: Die Lage jetzt ist nicht ohne weiteres mit der vor Weihnachten vergleichbar. Sollte es zu ähnlich hohen Fallzahlen wie damals kommen, hätte das nun weitreichendere Folgen. Zumal Corona-Ausbrüche laut RKI momentan insbesondere private Haushalte sowie zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld betreffen. Vor Weihnachten verzeichnete Deutschland knapp 200 Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Dann kam der Lockdown. Aktuell liegt diese Sieben-Tage-Inzidenz schon wieder bei über 130, Tendenz stark steigend.
Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, Prof. Eva Grill, erwartet bei steigenden Corona-Zahlen mehr schwere Krankheitsverläufe bei jüngeren Menschen. „Wir sehen einen Rückgang der Todesfälle bei den Hochaltrigen. Das deutet darauf hin, dass es zunehmend gelingt, die besonders vulnerablen Gruppen durch Impfung zu schützen“, erläutert sie. Aber auch bei den 60- bis 69-Jährigen liege das Sterberisiko der Infizierten noch bei etwa vier Prozent.
Anders als das ursprüngliche Virus breite sich B.1.1.7 auch schneller innerhalb von Familien aus, macht der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr deutlich. Bei der Mutante sei schnell die ganze Familie infiziert, wohingegen früher selbst enge Angehörige nicht immer angesteckt wurden. Zudem seien die Gesamtzahlen derzeit noch ansteigend. Bei dieser Kombination sei die Lage brisant. „Das ist ein Pulverfass, auf dem wir sitzen.“
Hohe Infektionsraten bei Jüngeren führten zu mehr Ausfällen, verdeutlicht Prof. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. Das liege allein schon daran, dass mehr Kontaktpersonen in Quarantäne müssten und das Umfeld – im Job oder in der Familie – bei Jüngeren, Berufstätigen, Eltern größer sei. «Und sicher ist es auch so, dass der Anstieg bei Kindern in Kitas und Schulen ebenfalls diese Konsequenzen hat.» Mehr Tests sollten daher vor allem dafür sorgen, dass Fälle früher erkannt und so aus dem Geschehen genommen werden können, erklärt der Wissenschaftler.
Das RKI mahnt, es sei „weiterhin unbedingt notwendig“, sich am Arbeitsplatz konsequent vor Infektionen zu schützen. Die gesamte Bevölkerung müsse wachsam sein, Abstands- und Hygieneregeln – auch im Freien – einhalten, Innenräume lüften, wo geboten Masken tragen und Menschenansammlungen – besonders in Innenräumen – möglichst meiden. Auch in Kitas und Schulen sollten Ausbrüche verhindert werden.
„Ich vertrau der Wissenschaft. Wenn das so ist, dann kann eben nur zwei Stunden Unterricht stattfinden“
Welche Konsequenzen aus dem Auftreten von B.1.1.7 für den Schulbetrieb nach den Osterferien erwachsen, wird laut „tagesspiegel“ in Berlin bereits hitzig diskutiert. Regina Kittler, Sprecherin für Schule und Kultur der Linken, plädiert dafür, den Unterricht an Kriegels neueste Erkenntnisse anzupassen – so groß die Konsequenzen auch seien. „Ich vertrau der Wissenschaft“, sagt sie laut Bericht. „Wenn das so ist, dann kann eben nur zwei Stunden Unterricht stattfinden.“ Die Situation sei für Eltern, Kinder und Jugendliche zwar mehr als schwierig, trotzdem könne man die Wissenschaft nicht ignorieren. Die CDU argumentiert ähnlich. Dirk Stettner, Sprecher für Bildung und Schule der CDU, spricht sich dafür aus, nicht die Augen vor neuen Erkenntnissen zu verschließen. „Die Wissenschaft hat bisher immer recht gehabt.“
Widerspruch komme hingegen von der FDP, so berichtet das Blatt: Der bildungspolitische Sprecher Paul Fresdorf wird zitiert, dass man sich nicht auf zwei Stunden Unterricht am Tag beschränken könne. „Es ist wichtig, den Wechselunterricht beizubehalten“, sagt er. „Das ist auch eine soziale Frage.“ News4teachers / mit Material der dpa