BERLIN. Bildung unterliegt der Länderhoheit – entsprechend fühlen sich die Landesregierungen berufen, den Betrieb der Einrichtungen in der Corona-Krise nach Gusto zu regeln. Das betrifft die Schulen. Das betrifft aber die Kitas nicht minder. Die Ansteckungszahlen unter Kita-Kindern steigen nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bundesweit dramatisch. Einige Länder ziehen daraus Konsequenzen. Berlin beispielsweise reduziert das Angebot auf einen Notbetrieb. Andere – wie Rheinland-Pfalz – sehen praktisch keinen Handlungsbedarf.
Prof. Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, schlug schon vor drei Wochen Alarm. Derzeit würden sogar mehr Kita-Ausbrüche beobachtet würden als vor Weihnachten – kurz vor dem Lockdown also. Vermutlich spiele die ansteckendere Corona-Variante B.1.1.7 dabei die entscheidende Rolle. Pro Kita-Ausbruch gebe es auch mehr Infizierte. Der Anstieg hänge nicht mit vermehrtem Testen zusammen – erklärte Wieler. Aktuelle Daten untermauern das: Die Inzidenz der 0- bis Vierjährigen stieg zwischen der 6. Kalenderwoche und der 12. von 34 auf 127.
„COVID-19-bedingte Ausbrüche betreffen momentan insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld, während die Anzahl der Ausbrüche in Alters- und Pflegeheimen abgenommen hat“, so heißt es im Lagebericht vom 6. April. Mit Blick auf Kitas mahnt das RKI ein strenges Vorgehen an: „Falls es zu Erkrankungen in einer oder mehreren Gruppen kommt, sollte eine frühzeitige reaktive Schließung der Einrichtung aufgrund des hohen Ausbreitungspotenzials der neuen SARS-CoV-2 Varianten erwogen werden, um eine weitere Ausbreitung innerhalb der Kita und in die betroffenen Familien zu verhindern.“
«Uns ist bewusst, wie belastend die Situation für viele Familien und vor allem die Kinder ist»
Das Bundesland Berlin reagiert auf die Bedrohungslage für Kinder und ErzieherInnen. Wegen wachsender Corona-Infektionsrisiken werden die Kitas dort erneut formal geschlossen. Sie sollen aber eine Notbetreuung anbieten für Kinder aus Familien, die dringend darauf angewiesen sind und in denen mindestens ein Elternteil in einem besonders wichtigen, sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet. Auch Alleinerziehende, die keine andere Betreuungsmöglichkeit organisieren können, und Eltern, bei deren Kindern aus besonderen pädagogischen Gründen eine Betreuung erforderlich ist, sollen das Angebot in Anspruch nehmen können. Eine ähnliche Regelung gab es schon einmal, bis die Kinderbetreuung im März wieder hochgefahren wurde.
Ein Sprecher der Bildungsverwaltung verteidigte den Schritt am Mittwoch: «Uns ist bewusst, wie belastend die Situation für viele Familien und vor allem die Kinder ist.» Ziel des Senats sei es daher, den Notbetrieb in den Kitas so kurz wie möglich zu halten und dann zu einem eingeschränkten Regelbetrieb zurückzukehren, in dem wieder allen Kindern ein Betreuungsangebot gemacht wird. «Wir beobachten allerdings auch die Entwicklung der Infektionslage mit Sorge und müssen deshalb den Betrieb einschränken», so der Sprecher. Nach Angaben der Bildungsverwaltung sind aktuell (Stand 6. April) in 124 der rund 2700 Berliner Kitas Corona-Fälle gemeldet – bei zuletzt rückläufiger Tendenz (Stand 1. April: 172), die allerdings in den Osterfeiertagen begründet liegt.
In Rheinland-Pfalz dagegen scheint Corona weniger gefährlich für Kita-Kinder, ihre Familien und das in den Einrichtungen beschäftigte Personal zu sein. Die Kindertagesstätten dort bleiben jedenfalls von einer Notbremse verschont. Die Kinder sollen aber möglichst in festen Gruppen betreut werden. Erzieherinnen und Erzieher sollen Maske tragen.
Die verblüffende Begründung: Die Corona-Infektionen seien zwar auch in den Kindertagesstätten in Rheinland-Pfalz gestiegen, aber weniger stark als in anderen Lebensbereichen – behauptet Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Die Begründung erstaunt deshalb, weil Berlin und Rheinland-Pfalz sich nur geringfügig in den Gesamt-Inzidenzen für das jeweilige Bundesland unterscheiden: Die Bundeshauptstadt meldet aktuell 115, Mainz 104.
In Rheinland-Pfalz sind aber von 2.600 Kitas im Land nach Angaben des Ministeriums nur 21 wegen Corona-Infektionen geschlossen, also weniger als ein Prozent – wie das Ministerium an dieser Stelle stets betont, um das Ausmaß kleinzureden. Unter den rund 41.000 Beschäftigten gibt es – offiziell – 103 Infektionsfälle, unter den 167.000 Kita-Kindern sind es – offiziell – 151. Nochmal deutlich: Beide Bundesländer haben in etwa gleich viele Kitas – und eine ähnlich hohe Inzidenz; in Berlin aber sind sechsmal mehr Einrichtungen wegen Infektionsfällen geschlossen.
Reiner Zufall? «Das Infektionsgeschehen wird in der Regel von außen in die Kitas hineingetragen», behauptet Hubig – und verweist auf Erkenntnisse der Universitätsmedizin Mainz und des Landesuntersuchungsamts.
„Diese Studie beruht auf den Daten der Gesundheitsämter. Da haben wir Zweifel bezüglich der Vollständigkeit der Datenlage“
Hier wird es interessant: Entsprechend der gestiegenen Infektionszahlen in der Gesamtbevölkerung gebe es zwar jetzt auch im Kindesalter bis zu 12 oder 14 Jahren mehr Infektionen, sagt der Kinder- und Jugendmediziner Prof. Fred Zepp von der Universitätsklinik Mainz, der Hubig berät. Diese führten aber zu einem großen Teil nicht zu Erkrankungen. So seien im Februar und März nur jeweils acht infizierte Kinder in Rheinland-Pfalz in Kliniken betreut worden, meist nur zur Überwachung. In den 14 Monaten seit Beginn der Pandemie seien es 89 Kinder gewesen. «Wir haben dort keine große Krankheitsaktivität.» Zepp warnt vor den Folgen von Kita- und Schulschließungen in Form von Entwicklungsstörungen und psychosozialen Schäden bei Kindern und Jugendlichen.
Zepp ist ein Mediziner mit ausgeprägtem Sendungsbewusstsein. Noch im Januar vertrat Zepp laut „Ärzte-Zeitung“ die These, dass bei Kindern auch ohne Durchimpfung vermutlich die angestrebte Herdenimmunität erreicht werden könne – einfach, indem sie sich infizierten.
Und was ist mit den Erkenntnissen des Landesuntersuchungsamtes, auf die sich Hubig auch noch beruft? „Diese Studie beruht auf den Daten der Gesundheitsämter. Da haben wir Zweifel bezüglich der Vollständigkeit der Datenlage“, sagt Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Universität Leipzig, auf Anfrage von News4teachers. Anders ausgedrückt: Wer nicht testet – findet auch nichts. News4teachers / mit Material der dpa
