MÜNCHEN. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU München haben ein interaktives Lehrbuch getestet. Die Ergebnisse legen nah, dass besonders leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler von den digitalen Möglichkeiten profitieren.
Leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler profitieren im Mathematikunterricht stärker von Lernmaterialien auf Tablets als leistungsstärkere Kinder. Ihnen helfen offenbar ein individueller Schwierigkeitsgrad, unmittelbares Feedback und die Bearbeitung interaktiver Aufgaben mit den Händen. Dies zeigt eine Studie der Technischen Universität München (TUM) in der sechsten Jahrgangsstufe.
Das Bruchrechnen gilt als eines der anspruchsvollsten Themen im Mathematikunterricht für jüngere Kinder. Vielen Schülerinnen und Schülern gelingt es nur mit Mühe, eine Vorstellung für Bruchzahlen zu entwickeln, die in vielfacher Hinsicht weniger zugänglich sind als natürliche Zahlen. Beispielsweise fällt es ihnen schwer, zu erkennen, dass acht Neuntel kleiner sind als sieben Sechstel, oder zu verstehen, dass nach einer Multiplikation das Ergebnis nicht immer größer ist als die Ausgangszahl.
Grundsätzlich geht die Bildungsforschung davon aus, dass Bilder von Alltagsgegenständen wie beispielsweise die Darstellung einer Pizza, die in mehrere Stücke zerteilt wird, den Kindern helfen. Um mit solchen Visualisierungen ein tieferes Verständnis der Bruchzahlen zu erreichen, bieten digitale Medien deutlich mehr Möglichkeiten als traditionelle Lernmaterialien. Allerdings ist zum einen umstritten, wie stark sich der Unterricht darauf konzentrieren kann, ohne dass das Erlernen der „eigentlichen“ Rechenfähigkeiten zu kurz kommt. Zum anderen gibt es noch immer nur wenige empirische Studien zum Einsatz von Computern im realen Mathematikunterricht.
Ein Forschungsteam der Technischen Universität München (TUM) hat deshalb ein interaktives Tablet-Schulbuch zum Bruchrechnen für die Jahrgangsstufe sechs entwickelt, das die Ausprägung einer intuitiveren Vorstellung von Bruchzahlen durch die Arbeit mit anschaulichen Darstellungen in den Mittelpunkt stellt.
Um die Wirkung des digitalen Schulbuchs zu untersuchen, teilten die Forscherinnen und Forscher rund 1.000 Schülerinnen und Schüler aus 45 Klassen an bayerischen Gymnasien und Mittelschulen in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe arbeitete mit dem digitalen Schulbuch, die zweite Gruppe mit einer gedruckten Variante des neu entwickelten Materials, die dritte Gruppe mit traditionellen Lehrbüchern. Vor und nach rund 15 Unterrichtsstunden wurden die Kompetenzen der Kinder ermittelt. Für die Auswertung wurde ein statistisches Verfahren angewandt, das die Wahrscheinlichkeit für eine korrekte Lösung angibt. Aufgrund eines Vortests gingen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass Schülerinnen und Schüler an Gymnasien tendenziell leistungsstärker in Mathematik sind als an Mittelschulen.
Die Auswertung der Tests an den Mittelschulen zeigte, dass die Tablet-Gruppe deutlich bessere Ergebnisse erzielte als die beiden anderen Gruppen. Dies galt nicht nur bei Aufgaben, bei denen Bruchzahlen bildlich dargestellt werden; auch bei klassischen Rechenaufgaben waren diejenigen Kinder kompetenter, die mit dem digitalen Schulbuch gelernt hatten. Hier lag die Wahrscheinlichkeit für eine richtige Antwort für eine mittelschwere Aufgabe bei 20 Prozent, während sie bei den beiden anderen Gruppen lediglich 13 Prozent betrug.
„Die oft geäußerte Sorge, dass die Konzentration auf ein intuitiveres Zahlenverständnis das Lernen des Rechnens behindert oder verzögert, hat sich als unbegründet erwiesen“, stellt Studienleiter Frank Reinhold, fest. „Im Gegenteil sehen wir beim Thema der Bruchzahlen einen positiven Einfluss auf die Rechenfähigkeiten.“
Ein anderes Bild zeigte sich an den Gymnasien. Die Kinder, die mit dem neu entwickelten Material gearbeitet hatten, waren zwar im Vergleich mit der Schulbuch-Gruppe kompetenter bei Aufgaben, bei denen Bruchzahlen bildlich dargestellt werden. Es machte aber keinen Unterschied, ob sie mit dem Tablet oder mit der gedruckten Variante gearbeitet hatten. Gar kein signifikanter Unterschied zeigte sich bei den klassischen Rechenaufgaben. Hier gab es bei allen Gruppen eine Wahrscheinlichkeit von rund 75 Prozent für eine korrekte Lösung.
„Von der Arbeit mit dem Tablet-Schulbuch profitieren im Mathematikunterricht also vor allem leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler. Beim Lernen des anspruchsvollen Bruchrechnens hilft ihnen offenbar, dass sich der Schwierigkeitsgrad an ihr Lerntempo anpasst und dass sie unmittelbar Feedback bekommen. Zudem kann es lernpsychologisch vorteilhaft sein, dass sie die Darstellungen der Zahlen mit ihren Händen bearbeiten können“, stellt Kristina Reiss fest, die ebenfalls an der Entwicklung des Schulbuches beteiligt war. „Die Studie gibt damit Hinweise, an welchen Schulen die Einführung von Tablets mit sinnvoll gestalteten Lernmaterialien einen besonders großen Mehrwert hat.“, so die Mathematikdidaktikerin.
In einem Folgeprojekt sollen nun Lehramtsstudentinnen und -studenten der TUM Schülerinnen und Schüler bei der Nutzung des Tablet-Buchs betreuen. So soll erprobt werden, wie angehende Lehrkräfte lernen, das digitale Material im Unterricht einzusetzen. (zab, pm)
Das digitale Schulbuch „Bruchrechnen. Bruchzahlen & Bruchteile greifen & begreifen“ steht auf Deutsch, Englisch und Spanisch kostenlos online zur Verfügung: Link zum Buch.
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