DÜSSELDORF. Die Ferien sind gerade gut eine Woche zu Ende – und schon sitzen viele Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen schon wieder zu Hause: in Quarantäne. Die soll nach dem Willen des Landes (nur) für direkte Sitznachbarn eines infizierten Schülers gelten. Doch die Praxis sieht oft anders aus: Mancherorts werden ganze Klassen nach Hause geschickt, während andernorts auch unmittelbare Kontaktpersonen nicht in Quarantäne genommen werden. „Das Schuljahr ist so gestartet, wie viele befürchtet haben“ – chaotisch, so heißt es bei den oppositionellen Grünen. Sie werfen NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer vor, den angeblich so wichtigen Präsenzunterricht nicht ausreichend gesichert zu haben.
Dienstagmorgen, in einer sechsten Klasse einer Realschule in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt: Selbsttests stehen an. In der vergangenen Woche, unmittelbar nach Schuljahresbeginn, hatte es bereits einen ersten positiven Fall in der Klasse gegeben – jetzt zwei neue: Eine Schülerin und ein Schüler werden von der Lehrkraft zum Sekretariat gebracht, von wo aus sie die Eltern abholen sollen. Für die anderen 26 Kinder, Elf- und Zwölfjährige, fast alle ungeimpft, läuft der Unterricht weiter wie geplant. Auch für die sechs Schülerinnen und Schüler, die mit an den Vierertischen der positiv Getesteten gesessen haben. Sport und Religion stehen auf dem Stundenplan – gemeinsam mit
Am Tag darauf, in der zweiten Stunde, informiert der Klassenlehrer die Kinder, die in unmittelbarer Nähe zu den beiden positiv Getesteten gesessen haben, dass sie sofort den Unterricht verlassen müssen und abgeholt werden sollen. Sie bekommen einen Zettel in die Hand gedrückt. Auf dem ausgefüllten Vordruck steht: „Die Schülerin / der Schüler XXXX Klasse XXXX saß neben einem Mitschüler/-in die positiv auf Covid 19 lt. (PCR.Test) getestet wurde.“ Datum und Unterschrift – keine weitere Information. Wie geht es jetzt weiter? Sind die Kinder in Quarantäne? Müssen sie in einem Testzentrum vorstellig werden? Wenn ja – wo denn? Gibt es irgendwelche Materialien fürs Lernen zu Hause? Alles offen.
Unterdessen gibt es an der Schule den nächsten bestätigten positiven Corona-Befund – in der Parallelklasse.
Wer einen negativen PCR-Test vorlegt, darf wieder am Unterricht teilnehmen – außer…
In Nordrhein-Westfalens Schulen scheint mit rasant steigenden Infektionszahlen unter Schülerinnen und Schülern das Chaos auszubrechen – keine Quarantäne hier, ganze Klassen in Quarantäne dort. Informationen? Häufig Fehlanzeige. Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hatte vor gut zwei Wochen angekündigt, dass im neuen Schuljahr bei einem Corona-Fall nicht mehr zwangsläufig die ganze Klasse in Quarantäne muss. Als «enge Kontaktpersonen» gelten nach dem entsprechenden Erlass des Gesundheitsministeriums jetzt nur noch Kinder, die vor, hinter, rechts oder links vom Infizierten gesessen haben. Gleiches gilt für Lehrer und weiteres Schulpersonal, wenn sie engen Kontakt zum betroffenen Schüler hatten. Geimpfte ohne Symptome sind von der Quarantäne ausgenommen.
Wer einen negativen PCR-Test vorlegt, darf wieder am Unterricht teilnehmen – außer er ist «nach einer Einzelfallprüfung vom Gesundheitsamt als Kontaktperson identifiziert worden», erklärte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums.
Diese widersprüchlich wirkenden Regeln führen offenbar zu einem riesigen Durcheinander. Mancherorts passiert bei einem Corona-Fall in einer Schule praktisch nichts, andernorts schicken die Gesundheitsämter große Gruppen in Quarantäne. So sitzen zum Beispiel in Solingen und Bonn aktuell ganze Klassen zu Hause fest. Dabei handele es sich um Einzelfälle, in denen die Hygieneregeln nicht durchgehend eingehalten worden seien, teilten Sprecher der Städte auf Anfrage mit.
Auch andernorts ermitteln die Gesundheitsämter bei einem positiven Test «die individuelle Situation» – mit der Folge, dass unter Umständen nicht nur die direkten Sitznachbarn des infizierten Kindes in eine 14-tägige Quarantäne müssen. «Wenn es im Sportunterricht, in der OGS [Offene Ganztagsschule] oder in der Pause enge Kontakte gab, zum Beispiel, wenn Kinder zusammen ohne Masken in einer Vogelnestschaukel gesessen haben, wird im Einzelfall geprüft, welche Kinder in Quarantäne müssen», sagt etwa ein Sprecher der Stadt Köln. So wurden nach einem Bericht des «Kölner Stadt-Anzeiger» 38 Zweitklässler einer Grundschule bereits am zweiten Schultag in Quarantäne geschickt, weil sie in einem relativ kleinen Raum zusammen gegessen hatten.
«Kontakte beim Sportunterricht, in der Mensa oder während der Pause werden vergessen»
«Das Schuljahr ist so gestartet, wie viele befürchtet haben», kritisiert die bildungspolitische Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion, Sigrid Beer. «Delta-Variante und Reiserückkehrende führen dazu, dass ganze Lern- und OGS-Gruppen nach wenigen Schultagen in die Quarantäne müssen.» Beer wirft Schulministerin Gebauer vor, die Augen vor der Realität zu verschließen: «Kontakte beim Sportunterricht, in der Mensa oder während der Pause werden vergessen. Deshalb sehen sich die Gesundheitsämter in der Praxis kaum in der Lage, die vereinfachten Quarantäneregelung anzuwenden – und schicken doch wieder zahlreiche Kinder in die Quarantäne.»
Wenn sie überhaupt noch irgendwelche Regelungen anwenden. Beim Robert-Koch-Institut heißt es – mit Blick auf das sich drastisch ausweitende Infektionsgeschehen: «Die Gesundheitsämter können nicht mehr alle Infektionsketten nachvollziehen.»
In Solingen sind nach einem WDR-Bericht unter anderem zwei fünfte Klassen einer Gesamtschule seit der Einschulungsfeier in Quarantäne. Die Kinder hätten bei der Feier in der Turnhalle auf Matten beieinander gesessen und seien anschließend gemeinsam in die Klassenräume gegangen, so dass sich nicht mehr nachvollziehen lasse, welche der Kinder in engem Kontakt miteinander gewesen seien. Ein Stadt-Sprecher betont, es handele sich hier um eine Sondersituation. Generell gelte für Solinger Schulen: Sollte es Abweichungen von den vorgegebenen Hygieneregeln – Maske, Lüften, Abstand – geben, oder «sollte sich die Situation für den Stadtdienst Gesundheit unübersichtlich darstellen, müssen gerade bei der hohen Solinger Inzidenz größere Gruppen in Quarantäne genommen werden». Im Schnitt seien seit den Ferien pro Fall sieben Quarantänen ausgesprochen worden.
Wie viele Schüler in NRW seit den Ferien bisher in Quarantäne kamen, konnten Schul- und Gesundheitsministerium am Mittwoch nicht sagen. Erste Zahlen dazu soll es Anfang kommender Woche veröffentlicht werden. News4teachers / mit Material der dpa