BERLIN. Die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen steigen weiter rasant – besonders betroffen ist Nordrhein-Westfalen. Das Landeszentrum Gesundheit hat für die Altersgruppe der Schülerinnen und Schüler hohe Werte gemeldet, die bis vor Kurzem noch für Alarm in der Politik gesorgt hätten, nun aber offenbar hingenommen werden. Bei den Grundschülern (Fünf- bis Neunjährige) liegt der Wert bei 316,4, bei den Sekundarstufe-I-Schüler (Zehn- bis 14-Jährige bei 372,8 und bei den Sekundarstufe-II-Schülern (15- bis 19-Jährige) bei 282,7. Die Wocheninzidenz über alle Altersgruppen hinweg liegt in NRW bei 124,3. „Man kann davon sprechen, dass die Durchseuchung der Kinder mit dem Coronavirus begonnen hat“, erklärte der Immunologe Prof. Reinhold Förster gegenüber dem WDR. Die Stadt Wien rüstet sich bereits dafür, dass mehr Kinder auf den Intensivstationen landen.
Sebastian Mohr, Physiker und Statistiker in einer Wissenschaftler-Gruppe um die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, hat eine Übersichtskarte mit Inzidenzen in den Städten und Kreisen in Deutschland veröffentlicht, die sich auch nach Alter spezifizieren lässt – danach gibt es in Deutschland mittlerweile fünf Kommunen, in denen die Inzidenz unter den Fünf- bis 14-Jährigen auf Werte über 500 gestiegen sind, alle in Nordrhein-Westfalen: Oberhausen (561), Krefeld (529), Hagen (567) und Leverkusen (581); bundesweiter Spitzenreiter ist Wuppertal mit 751. Fast ganz Nordrhein-Westfalen weist danach in der Altersgruppe Inzidenzen zwischen 200 und 500 auf. Vereinzelt gibt es solche Risikogebiet auch außerhalb des Landes. So liegen in den Städten Hamburg und Augsburg die Inzidenzwerte bei den Schülerinnen und Schüler ebenfalls bereits bei über 200. Hier geht es zu der Übersichtskarte.
Die Inzidenz bei Kindern in NRW (ungeimpft) liegt jetzt bei über 500.
Schule in Nordrhein-Westfalen – hoffentlich überlebt ihr’s, Kids!
— Jan Böhmermann 🦠🤨 (@janboehm) August 27, 2021
„Man kann davon sprechen, dass die Durchseuchung der Kinder mit dem Coronavirus begonnen hat“, erklärte der Immunologe Prof. Reinhold Förster gegenüber dem WDR. Da es für Kinder unter zwölf Jahren keinen zugelassenen Impfstoff gibt, könne man auf die Idee kommen, die Pandemie in diesen Altersgruppen einfach durchlaufen zu lassen, also zum Beispiel die Quarantänemaßnahmen in den Schulen abzuschaffen. Förster sieht das allerdings kritisch: „Epidemiologisch können wir uns eine Durchseuchung der Kinder nicht leisten. Es gibt zu viele Menschen in Deutschland, die sich nicht impfen lassen wollen. Außerdem gibt es eine Studie der Universität Oxford, die deutlich zeigt, dass auch vollständig Geimpfte, wenn sie sich infizieren, große Virenmengen ausscheiden, ohne selbst zu erkranken.“ Die Konsequenz daraus laute, dass das Virus nicht verschwinden wird.
„Wir bekommen keine Herdenimmunität. Das ist eine dramatische Nachricht für alle, die nicht geimpft sind“
Förster: „Im Endeffekt heißt das, dass wir keine Herdenimmunität bekommen. Das ist eine dramatische Nachricht für alle, die nicht geimpft sind. Delta ist hochinfektiös und mindestens so krankmachend wie die Alpha-Variante.“ Ob auch Kinder stärker von schweren Erkrankungen betroffen sind, dazu ist die Datenlage laut Robert-Koch-Institut unklar.
Der Kinderminister sollte der “oberste Beschützer der Kinder” sein (s. Interview) – nicht ihre größte Gefahr.
Wenn die Landesregierung die Kinder nicht ausreichend schützen kann und will, dann muss ich das selber tun, so gut es geht.
Ich finde das ist meine Aufgabe als Vater.— Intensivdoc (@narkosedoc) August 26, 2021
Österreichs Hauptstadt Wien bereitet sich bereits darauf vor. „Wir sind gerade dabei, den Intensivbereich für Kinder und Jugendliche aufzustocken, weil wir es zumindest nicht ausschließen können, dass wir hier mehr Kapazitäten brauchen werden”, sagt Gesundheitsstadtrat Peter Hacker gegenüber der „Welt“. „Wir bereiten auch das Personal in der Kindermedizin durch Schulungen darauf vor, dass die Situation in ein paar Wochen eine ganz andere sein kann als jetzt.“
Trotzdem drängen die deutschen Kultusminister auf weitere Lockerungen im Kita- und Schulbetrieb. Vor allem die Quarantäne-Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) für die Schulen sind ihnen ein Dorn im Auge. „Das RKI muss jetzt mal schauen: Wie kann es sein, dass wir SchülerInnen nach wie vor 14 Tage in Quarantäne schicken, während Reiserückkehrer sich nach fünf Tagen freitesten können. Das ist jetzt Aufgabe des Bundes, hier entsprechend andere Entscheidungen herbeizuführen. Damit diese vielen Quarantänemaßnahmen, die jetzt durch die Gesundheitsämter vollzogen werden, ein Ende finden“, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer in der „Aktuellen Stunde“ des WDR.
«Es ist nicht nachvollziehbar, warum Kinder 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen»
Auch Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), Sprecher der SPD-geführten Kultusministerien in Deutschland, will andere Quarantäne-Regeln für Schülerinnen und Schüler bei Corona-Infektionen. «Es ist nicht nachvollziehbar, warum Kinder, bei denen die Krankheit zügiger verläuft und schneller abklingt, trotzdem 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen und zudem keine Möglichkeit haben sich freizutesten», sagte Rabe der Zeitung «Welt am Sonntag». Viele Eltern und Schulen seien unzufrieden mit den Quarantäne-Regeln. «Auch die Kultusministerkonferenz sieht die jetzigen Regeln kritisch», sagte Rabe. Deshalb sei sie auch mit dem Robert Koch-Institut im Dialog, um eine Verkürzung der Quarantäne-Regelung und eine Möglichkeit zur Freitestung zu schaffen.
Berlin und Baden-Württemberg haben bereits gehandelt und neue Quarantäne-Regeln für die Schulen gegen die RKI-Empfehlung verkündet. Wenn Mitte September in Baden-Württemberg die Schule wieder losgeht, gilt: Statt Quarantäne müssen sich alle Schüler einer Klasse fünf Tage lang mindestens mit einem Schnelltest täglich testen, sollte ein Mitschüler infiziert sein. Ausnahmen gelten nach Angaben des Kultusministeriums vom Freitag etwa für Grundschüler. Hier müssen sich Kontaktpersonen nur einmal vor Wiederbetreten der Einrichtung testen lassen. Auch dürften bei einem Corona-Fall für fünf Schultage alle Schüler der betroffenen Klasse oder Gruppe nur in diesem Verbund unterrichtet werden. Auch in Kitas gilt: Die Quarantäne von Kindern kann bei einem positiven Fall in der Betreuungsgruppe entfallen, wenn diese einmalig negativ getestet werden.
In den neuen Verordnungen für Schulen und Kitas, die von diesem Samstag an für die Schulen für Baden-Württemberg gelten, sind Inzidenzen als Maßstab für Maßnahmen entfernt. «Somit gibt es nun keine Regel mehr, die Wechsel- oder Fernunterricht ab dem Überschreiten eines bestimmten Inzidenzwertes vorschreibt», so heißt es beim Kultusministerium. Unabhängig von der Inzidenz ist auch Sportunterricht möglich, solange kein Corona-Fall vorliegt.
Schule während einer Pandemie.
Der beste Zeitpunkt, die Maßnahmen zu lockern bzw. aufzuheben.
Natürlich nur falls man #Durchseuchung anstreben sollte.
Oh wait…@KM_BW @RegierungBW @FraktionGruenBW @CDU_BW @SWRAktuellBW https://t.co/9l0SNohlDT— Frau Rektorin (BW) (@FrauRektorin) August 26, 2021
Berlins Amtsärzte hatten am Freitag eine Stellungnahme veröffentlicht, nach der die Gesundheitsämter künftig nur noch Kinder und Jugendliche mit einem positiven PCR-Test in eine 14-tägige Quarantäne schicken wollen. Kontaktpersonen außerhalb der engsten Familie würden nicht mehr ermittelt, heißt es. Die neue Regelung gelte für alle Bezirke. «Das ist eine Erleichterung für die Schulen, eine Arbeitserleichterung, definitiv», sagte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Es sei schon aufwendig gewesen, beim Bekanntwerden von Coronafällen die Kontakte in der Schule nachzuvollziehen, beispielsweise anhand von Sitzplänen. Die Schulen hätten das sehr sorgfältig gemacht. Dieser Aufwand falle durch die neue Regelung weg.
SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach kritisiert den Schritt scharf: „Berlin kapituliert vor der Delta Variante in Schulen. Nur infiziertes Kind muss in Quarantäne. Nicht die Kontakte. Damit ist komplette Durchseuchung der Kinder in Berlins Schulen wahrscheinlich“, so schrieb er auf Twitter. News4teachers / mit Material der dpa
