ERFURT. Wenige Tage vor der Bundestagswahl hat die von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) geführte Landesregierung von Thüringen den Corona-Schutz in Schulen praktisch aufgehoben. Es gibt keine Schnelltests mehr – und keine Maskenpflicht im Unterricht. Mobile Luftfilter wurden kaum angeschafft. Damit hat das Virus in den nächsten Monaten unter ungeimpften Kindern und Jugendlichen praktisch freie Bahn.
„Dieses Schuljahr ist ein Präsenzschuljahr“, so hatte Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke) am Ende der Sommerferien erklärt. Und betont: „Wir wollen die Schulen offen lassen.“ Vom Bildungsministerium werde es aus heutiger Sicht keine Anordnung geben, Schulen zu schließen, betonte Holter. Es könne zwar sein, dass ein Gesundheitsamt nach einem Infektionsausbruch in einer Schule zu einer anderen Entscheidung komme. Das sei dann aber keine Entscheidung des Bildungsministeriums. „Denkbar sind nur Einzelfälle beim Ausbruch von Infektionen in der Einrichtung“, sagte Holter.
Kinder und Jugendliche sollen bei Symptomen von Haus- und Kinderärzten getestet werden
Dass Ausbrüche in Thüringer Schulen erkannt werden, bleibt allerdings künftig dem Zufall überlassen. Denn Tests, die ein Infektionsgeschehen unter Schülerinnen und Schülern anzeigen würden, gibt es seit heute im Freistaat nicht mehr. Stattdessen gilt: Kinder und Jugendliche sollen bei Symptomen von Haus- und Kinderärzten getestet werden. Auch die Maskenpflicht im Unterricht entfällt. Außerdem dürfen alle Eltern ohne Symptome wieder uneingeschränkt in die Schulgebäude. Mobile Luftfilter für Klassenräume gibt es trotz eines Förderprogramms der Bundesregierung kaum – in der Stadt Jena etwa wurde einem Bericht des MDR zufolge nur für jeden zehnten Klassenraum ein solches Gerät angeschafft; die Hälfte davon wurde auch noch privat von Eltern bezahlt.
So bleibt als praktisch einzige Corona-Schutzmaßnahme für die nach wie vor weitgehend ungeimpften Schülerinnen und Schüler im Herbst und Winter: offene Fenster. Und: Menschen mit Symptomen dürfen die Schulgebäude nicht betreten.
Thüringen ist nach Sachsen das Bundesland mit der zweithöchsten Corona-Sterberate in Deutschland. Thüringen verzeichnet 208 Pandemie-Tote auf 100.000 Einwohner. Der Bundesschnitt liegt bei 112.
Dabei ist es keineswegs so, als würde das Coronavirus in den Schulen des Landes nicht mehr grassieren. Die Corona-Schnelltests haben in den ersten beiden Wochen des neuen Schuljahres im Freistaat insgesamt 2029 Treffer ergeben. In der ersten Woche gab es 992 positive Testergebnisse, in der zweiten 1037, teilte das Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport auf Anfrage mit. Dem Ministerium lagen keine Angaben darüber vor, wie viele dieser positiven Schnelltests durch einen PCR-Test bestätigt wurden. Denn dafür seien die Gesundheitsbehörden verantwortlich, hieß es.
„Wir sind zutiefst enttäuscht über diese kurzsichtige Entscheidung gegen einen möglichst sicheren Schulbetrieb”
Jenas Bürgermeister Christian Gerlitz (SPD) kritisiert das Ende der Corona-Tests an den Thüringer Schulen scharf. Trotz Infektionsfällen an acht Jenaer Schulen während der zweiwöchigen Testphase habe das Bildungsministerium weitere freiwillige Testangebote in den Schulen abgelehnt, sagt Gerlitz laut Bericht des MDR. Das sei eine kurzsichtige Entscheidung, über die er zutiefst enttäuscht sei.
Die Stadt habe das Ministerium darum gebeten, freiwillige Test generell zur Verfügung zu stellen – nicht erst, wenn die Warnstufe 1 erreicht wird. Das Ministerium habe das aber verweigert mit der Begründung, dass es dafür an Geld fehle. „Wir sind zutiefst enttäuscht über diese kurzsichtige Entscheidung gegen einen möglichst sicheren Schulbetrieb. Vor allem, dass die Ablehnung unserer Allgemeinverfügung einzig mit fehlenden Haushaltsmitteln begründet wird, macht mich fassungslos“, sagt Gerlitz dem Bericht zufolge.
Hintergrund: Freiwillige Tests für Schülerinnen und Schüler will Thüringen erst in einer „Warnstufe 1“ anbieten. Als Kriterium ist dafür benannt: eine Inzidenz von über 35. Tatsächlich liegt Thüringen bereits deutlich darüber (aktuell: 51) – und landesweit passiert nichts. Die Aussetzung der Schüler-Tests wird absehbar dazu beitragen, dass die Inzidenz im Land sinkt.
Zusätzlich sollen zur Ausrufung der Warnstufe denn auch „Krankenhausaufenthalte“ und „Auslastung der Intensivstationen“ als Indikatoren hinzugezogen werden. Welche jeweiligen Werte dafür maßgeblich sind? Dafür wurden ein “Schutzwert” festgelegt, nämlich die wöchentliche Inzidenz hospitalisierter Fälle pro 100.000 Einwohner im Landkreis beziehungsweise in der kreisfreien Stadt, sowie ein “Belastungswert”, der prozentuale Anteil intensivmedizinisch behandelter COVID-19-Fälle an der Gesamtzahl der betreibbaren Intensivbetten in ganz Thüringen. Aber auch bei Erreichen gibt es noch einen Vorbehalt: Die strengeren Corona-Infektionsschutzregeln gelten nur dann, wenn die Infektionen nicht auf einzelne konkrete Ausbruchsherde beschränkt sind.
Einen Schüler zu Hause lassen, weil der eingeschlagene Durchseuchungskurs zu riskant erscheint? Das geht so einfach nicht. Nur in Einzelfällen soll es die Möglichkeit der Befreiung vom Schulbesuch geben – etwa für Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen, so erklärte Bildungsminister Holter. Grundsätzlich gilt ihm zufolge: „Alle nehmen am Präsenzunterricht teil.“ News4teachers / mit Material der dpa
Warum es unverantwortlich ist, Masseninfektionen an Schulen in Kauf zu nehmen