BERLIN. Das Märchen wird immer noch von verantwortlichen Politikern verbreitet: „Sie sind nicht die Treiber der Pandemie“ – behauptet die neue Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) mit Blick auf Kinder. Dabei zeigen die vom Robert-Koch-Institut gemeldeten Inzidenzen seit mindestens einem halben Jahr (seit nämlich regelmäßig in Schulen getetet wird) ein ganz anderes Bild. Spiegel sollte sich beim neuen Corona-Expertenrat der Bundesregierung informieren – dessen Mitglied Prof. Drosten hatte schon frühzeitig die „Nicht-Treiber“-Floskel als Unsinn entlarvt.

Die Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen sind in den letzten beiden Wochenberichten des RKI leicht zurückgegangen – offensichtlich macht sich die Maskenpflicht im Unterricht, die seit drei Wochen bundesweit gilt, bemerkbar. Gleichwohl ist das Niveau nach wie vor beängstigend: Bei den Fünf- bis Neunjährigen liegt der Wert bei 888, bei den Zehn- bis 14-Jährigen bei 905 – und damit nach wie vor mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt aller Altersgruppen.
Die Bundesfamilienministerin zeichnet in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ ein anderes Bild: „Was mich ärgert, sind voreilige Vorstöße für eine Kinderimpfpflicht. Diskussionen über eine Impfpflicht dürfen wir nicht auf dem Rücken der Kinder führen. Kinder zeigen viel Verständnis und Solidarität. Sie sind nicht die Treiber der Pandemie. Was die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen bringt, sind ungeimpfte Erwachsene. Daran gibt es nichts herumzudeuten.“ Gleichwohl will sie ihre eigenen Kinder impfen lassen: „Für meinen Mann und mich war sehr früh klar, dass wir unsere Kinder impfen lassen werden. Wir haben mit einem Kinderarzt Kontakt aufgenommen und uns beraten lassen. Jetzt stehen die Kinder auf einer Warteliste.“
Da geht einiges durcheinander. Dass Kinder seltener schwer an Corona erkranken, ist gottseidank Tatsache. Gleichwohl sind auch Kinderklinken sehr wohl an Kapazitätsgrenzen angelangt. Nicht, weil sie an SARS-CoV-2-Symptomen leiden würden. Unter Kindern in Deutschland grassiert das RS-Virus. Aber auch diese Welle steht wohl im Zusammenhang mit Corona. „Es ist relativ klar, dass jetzt, wo die Kinder wieder miteinander zu tun haben dürfen und wir drei Jahrgänge haben, die in den Kindergärten aufeinandertreffen und durch den Lockdown keinen Austausch der Infektionen hatten, dreimal so viele Kinder wie sonst krank werden“, erklärte der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Dr. med. Dominik Ewald, bereits im Oktober. „Die machen jetzt alle auf einmal das durch, was normalerweise nur ein Jahrgang durchmachen würde.“
„Diese Sprechweise hat an einigen Stellen verhindert, dass die Dringlichkeit des Problems wahrgenommen wurde”
Schon seit Pfingsten grassieren unter den Kindern Infektionen, das RS-Virus schlägt besonders seit dem Ende der Sommerferien zu. „Jetzt kommen auch noch die verschiedenen Erkältungsviren, dazu gehören neben RSV zum Beispiel Influenza- oder Rhinoviren, schilderte Ewald. An sich ist dies kein Grund zur Sorge“, betonte der Pädiater. „Gesunde Kinder können so einen Infekt durchaus durchstehen.“ Problematisch sei derzeit nur, dass sich viele Kinder einen Infekt nach dem anderen einfingen und dann zu geschwächt seien, um dem RS-Virus noch viel entgegensetzen zu können. Kinder infizieren sich derzeit täglich zu Tausenden mit dem Coronavirus.
Zweiter Punkt: Dass Kinder keine Treiber der Pandemie seien, ist wissenschaftlicher Unsinn. „Diese Sprechweise hat an einigen Stellen verhindert, dass die Dringlichkeit des Problems wahrgenommen wurde und man das Ganze wirklich lösungsorientiert angefasst hätte“, erklärte Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité und seit Kurzem Mitglied des neuen Corona Expertenrats der Bundesregierung, bereits im Februar. Der Wissenschaftler sprach ironisch von „Lautmalerei“.
Über ein Jahr lang verging kaum eine Woche, in der kein Kultusminister die Floskel gebrauchte. Hinterfragt wurde sie – auch von Medienvertretern – praktisch nie. Doch was bedeutet „Treiber“ überhaupt? Was steckt epidemiologisch hinter dem Begriff? Nicht so viel, wie man vermuten könnte. „Ich habe den Eindruck, dass manche Leute, die so argumentieren, vielleicht Lehrbuch-Beispiele aus der Epidemiologie im Kopf haben, die sich mit der Influenza beschäftigen“, der Grippe also, sagte Drosten in einem NDR-Podcast.
Bei der saisonalen Grippe sei der Effekt tatsächlich deutlich: „Bei der sind wir Erwachsenen und auch die Kinder ab einem gewissen Alter alle schon mit dem Virus in Kontakt gewesen und haben eine gewisse Immunität. Die kleinen Kinder haben das aber nicht. Unter den kleinen Kindern kocht das Virus deshalb so richtig hoch, denn die sind immunologisch naiv, die sind die Nische in der Population, wo das Virus hinkann, sich vermehren kann – und von dort streut es dann wieder aus in die Erwachsenen-Jahrgänge. In diesem Sinne sind bei der saisonalen Grippe die Kinder die Treiber des Geschehens. Auch die Schulen, wenn man so will, sind dann Treiber des Geschehens“, sagt der international renommierte Virologe, um spöttisch anzufügen: „Tolles Wort, kann man dann vielleicht auch benutzen.“
„Kinder sind nicht die Treiber des Infektionsgeschehens, genauso wenig sind es die Restaurantbesucher“
In der Corona-Pandemie hätten wir es aber nun einmal mit einem neuen Virus zu tun, bei dem keine Altersgruppe sich eine Grundimmunität habe aufbauen können. Deshalb sei es auch nicht sinnvoll, bei Covid-19 überhaupt von irgendjemandem als „Nicht-Treiber“ oder „Treiber“ der Pandemie zu sprechen. Mit Blick auf Corona gelte: „Die Kinder sind nicht die Treiber des Infektionsgeschehens, genauso wenig sind es die Restaurantbesucher oder die Besucher von Opernhäusern oder die Mitarbeiter in Großbüros.“
Bei Kindern werde die Floskel aber stets genutzt. Drosten: „Das hinkt. Das ist kein sinnvoller Begriff. So sieht’s aus. Das kann man schon daran sehen, dass sich die Diskussion an der falschen Stelle erhitzt.“ Die entscheidende Frage sei eher: „Was haben wir hier für quantitative Beiträge – welchen Teil am R-Wert trägt diese Bevölkerungsgruppe bei? Schul- und Kita-Kinder stellen etwa 20 Prozent der Bevölkerung – also sind es 20 Prozent der Kontakte.“ Natürlich könne die Politik die Schulen komplett öffnen und Normalbetrieb erlauben, allerdings müsse sie dann eben auch entsprechend viele Infektionen in Kauf nehmen.
Drosten: „Wir sollten uns von dieser blöden Idee verabschieden, dass irgendeine Gruppe der spezielle Treiber des Geschehens sein könnte – und damit auch vom Umkehrschluss, dass, wenn jemand nicht der Treiber ist, der dann auch keine Relevanz im Infektionsgeschehen hat. Es leisten alle den gleichen Beitrag zu diesem Problem.“ Wenn man sich die Schulen anschaut, dann bedeute das eben, dass Infektionen dort so häufig aufträten wie im Rest der Bevölkerung.
Das aber bestreitet Spiegels ehemalige Kabinettskollegin, die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD), seit Pandemiebeginn. Bis zu ihrer Ernennung als Bundesfamilienministerin war Spiegel Umweltministerin in Mainz. Hubig am 15. Oktober 2020: „Die Schulen sind nicht die Treiber der Pandemie.“ Hubig am 8. Dezember 2020: „Schulen sind keine Treiber der Pandemie.“ Prof. Dr. med. Fred Zepp, Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Mainz – und Hubigs Berater (am 28. Februar 2021): „Kitas und Schulen sind ganz sicher nicht die Treiber der Pandemie.“
Das Robert-Koch-Institut stellt dazu in seinem jüngsten Wochenbericht fest: „Bei der Zahl der übermittelten Schulausbrüche konnte von Mitte Oktober 2021 bis Mitte November
2021 ein sehr rascher Anstieg beobachtet werden. Dabei überstieg die Zahl der Schulausbrüche bei Weitem das Niveau der zweiten und dritten Welle. Bisher wurden 1.728 Schulausbrüche für die letzten vier Wochen (Meldewoche 46-49/2021) übermittelt mit einem neuen Höhepunkt von bisher 753 Ausbrüchen in MW 46/2021.“ Nachmeldungen seien dabei noch zu erwarten. News4teachers / mit Material der dpa
