FRANKFURT/MAIN. Wissenschaftler der Goethe-Universität haben die Einstellungen junger Musliminnen und Muslime zu lebensweltlichen und gesellschaftlichen Fragen untersucht, im Auftrag des umstrittenen Moscheeverbands DITIB.
Junge Muslime fühlen sich in Deutschland zu Hause, empfinden aber zugleich eine gewisse Unentschlossenheit gegenüber dem Land, in dem sie leben. Sie planen ihre Zukunft in Deutschland und engagieren sich etwa in der Flüchtlingshilfe, in der Politik und in der Feuerwehr, können sich aber nicht vorstellen, in Deutschland beerdigt zu sein. Sie finden in der DITIB einen Ersatz für die türkische Heimat ihrer Eltern und Familien, fordern aber mehr deutschsprachige Imame in ihrer Gemeinde und ein stärkeres Zugehen des Verbands auf nicht-muslimische Bürgerinnen und Bürger. Sie wünschen sich einen selbstbewussteren Umgang mit dem eigenen Glauben, sind der Meinung, die islamische Religion sei nur für Musliminnen und Muslime offen, lehnen aber religiöse Übertreibungen wie Kopftuchzwang und Zwangsehen ab. Sie betonen biologische und Rollen-Unterschiede zwischen Mann und Frau, gehen aber selbstverständlich von deren Gleichberechtigung aus.
Dies sind Ergebnisse der jüngst vorgestellten DITIB-Studie 2021, erstellt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Frankfurter Goethe-Universität. Für die Studie befragten die Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr, Professor mit dem Schwerpunkt Islam, und Meltem Kulaçatan junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren, die sich selbst als muslimisch bezeichnen, sich ehrenamtlich im Jugendverband des DITIB-Moscheeverbands engagieren und in Deutschland beheimatet sind.
Ihre Ankünfte wiesen die Befragten als überdurchschnittlich gut ausgebildet aus, so die Forscher, und als Angehörige einer bürgerlich orientierten Mittelschicht; sie seien an Normalität interessiert, wollten nicht als migrantisch und muslimisch definiert werden und seien positiv gegenüber staatlichen Regelsystemen eingestellt. Gleichwohl gaben die jungen Menschen an, prägende Diskriminierungserfahrungen, etwa in der Schule, gemacht zu haben.
Initiiert wurde die Studie vom Jugendverband des DITIB-Moscheeverbands (BDMJ), verbunden mit dem Wunsch, seine Angebote besser an die Bedürfnisse der jugendlichen Zielgruppen anpassen zu können. Da auch das postmigrantische Selbstverständnis junger Menschen, also auch das Generationenverhältnis in der Studie erfragt werden sollte, äußerte auch der von den Jugendlichen als „Erwachsenenverband“ bezeichnete Bundesverband DITIB Interesse an den Ergebnissen. Die Studie wurde schließlich vom Bundesverband in Auftrag gegeben. Die Wissenschaftler der Studie weisen darauf hin, dass eine Einflussnahme des Auftraggebers auf Ergebnisse vorab ausgeschlossen wurde.
Die Studie verbindet quantitative Ergebnisse mit qualitativen Aussagen, in denen die Befragten anonym zu Themen Stellung nehmen konnten. „Ich möchte mich hier wohlfühlen“, lautet etwa ein Kommentar. „Ich bin hier geboren und aufgewachsen, kenne mich mit der deutschen Kultur aus und beherrsche die Sprache sehr gut. Aufgrund meiner Religion und meiner Herkunft werde ich in vielen Bereichen des Lebens ausgegrenzt, und das finde ich sehr schade, denn ich sehe Deutschland auch als Heimat an. Genauso wie die Türkei. Dieses gute Gefühl wird mir leider oftmals genommen.“ In Bezug auf die Jugendarbeit des DITIB enthält die Studie Äußerungen, wie „mehr nicht-muslimische Referenten einladen, Kooperation mit anderen religiösen Vereinen (auch nicht-muslimische), bessere Zusammenarbeit mit Bürgermeistern.“ Einen hohen quantitativen Zustimmungswert erreicht die Aussage: „Ich würde nur eine Muslimin oder einen Muslim heiraten.“
Die gesellschaftliche Funktion des DITIB bewerten die Wissenschaftler insgesamt positiv. Sie sprechen dem Moscheeverband die Fähigkeit zu, über eine religiöse Grundbildung zur Stabilisierung der Persönlichkeit beizutragen und somit über intellektuell und spirituell gebildete und interessierte junge Menschen Integration zu gestalten. „Es ist genau diese religiöse Matrix für lebensweltliche Orientierung, die radikalen Muslimen oft fehlt“, sagt Harry Harun Behr.
Allerdings ermuntern die Erziehungswissenschaftler den Moscheeverband auch, „kritische Reflexion als Chance für bewusstere Religion zu begreifen und nicht als Angriff auf den Glauben.“ Die große Herausforderung bestehe darin, die veränderte, eher „säkulare Spiritualität“ der jungen Generation aufzugreifen und einen religionsgemeinschaftlichen Raum auch für diejenigen zu gestalten, die bislang als „abweichend“ markiert werden. (zab, pm)
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