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Die heikle Frage der Aufsichtspflicht – worauf müssen Lehrer achten? Und wo sind die Grenzen?

KÖLN. Lehrerinnen und Lehrer geraten immer wieder in Sachen Aufsichtspflicht unter Druck, insbesondere auch dann, wenn es um Klassenfahrten und Ausflüge geht. Wie steht’s denn wirklich damit? Welche Pflichten resultieren aus der dienstlichen Aufsichtspflicht? Der folgende Beitrag ist der erste Teil aus einem umfangreichen Artikel, den der renommierte Schulrechtler Dr. Thomas Böhm für die Zeitschrift “Grundschule” verfasste.

Hier ist der vollständige Beitrag herunterladbar (kostenpflichtig).

Wo sind die Grenzen der schulischen Aufsichtspflicht? Foto: Balthasar Schmitt / Wikimedia Commons(CC-BY-SA-3.0)

Was Lehrer zur Aufsichtspflicht wissen müssen

Die Aufsichtspflicht der Schule beruht auf dem Schutzbedürfnis Minderjähriger und dem staatlichen Erziehungsauftrag, der die Schule verpflichtet, die ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler vor Schaden zu bewahren, aber auch zu verhindern, dass andere Personen durch sie einen Schaden erleiden (Avenarius 2010, Schulrecht, Kronach 2010, S. 707f).

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Kinder im Grundschulalter bedürfen immer der Aufsicht, die entweder den Eltern, von den Eltern beauftragten Personen oder der Schule obliegt.  Die Schule erfüllt ihre Aufsichtspflicht nicht aufgrund der Beauftragung durch die Eltern, sondern auf der Grundlage ihres verfassungsrechtlich und gesetzlich festgelegten Erziehungsauftrages. Die Eltern können daher Lehrkräften keine Weisungen für die Erfüllung der Aufsichtspflicht erteilen, die Lehrkräfte können sich aber auch nicht durch Einverständniserklärungen der Eltern von der Aufsichtspflicht befreien lassen.

Erklären Eltern der Sportlehrerin gegenüber schriftlich, dass ihre Tochter mit Schmuck am Sportunterricht teilnehmen darf und sie im Schadensfall auf alle Ansprüche gegen die Lehrerin verzichten werden, ist diese Erklärung ungültig, da Eltern Lehrer nicht von der Erfüllung ihrer Dienstpflichten befreien können.

Ebenso wenig sind Eltern berechtigt, der Lehrerin zu verbieten, ihre Tochter an einem Fußballspiel im Sportunterricht zu beteiligen, da die Verletzungsgefahr zu groß sei.

Erklärungen von Eltern sind von Bedeutung für die Aufsichtspflicht, wenn die Eltern die Fähigkeiten oder den Gesundheitszustand ihres Kindes ergänzend zur Schule oder vorrangig beurteilen können. Sie schreiben dann der Schule kein bestimmtes Verhalten vor, sondern schaffen eine Beurteilungsgrundlage, über welche die Schule ohne Mitwirkung der Eltern nicht verfügen würde.

1. Medizinische Betreuung

Es gehört nicht zur Aufsichtspflicht der Schule, Kinder mit Medikamenten zu versorgen oder medizinisch zu betreuen. Lehrer sind aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation nicht in der Lage und aufgrund ihrer in Gesetzen und Dienstordnungen festgelegten Dienstpflichten und ihres Berufsbildes auch nicht verpflichtet, eine medizinische Versorgung von Schülern vorzunehmen. Das gilt auch, wenn es sich nicht um körperliche Eingriffe wie etwa das Setzen von Spritzen handelt, sondern um kontrollierende Maßnahmen wie das Ablesen bestimmter Messwerte.

Die Forderung von Eltern eines Schülers des ersten Schuljahres, der an Diabetes leidet, die erforderliche Messung des Blutzuckerspiegels zu unterstützen und darauf zu achten, dass das Kind der Messung entsprechend Nahrung zu sich nimmt, kann daher zurückgewiesen werden. Das gilt auch für die Aufbewahrung von Medikamenten während einer Klassenfahrt und die Verpflichtung, Schüler jeweils an die Einnahme zur richtigen Zeit zu erinnern.

Zeitschrift 'Grundschule'

Dieser und andere Beiträge zum Thema Schulrecht sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Keine Angst vor dem Schulrecht! Was Sie für Ihre pädagogische Arbeit wissen müssen” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Früher galten Lehrer als unantastbar. Sie waren viel geachtete Respektspersonen. Doch diese Sichtweise hat sich längst überholt. Sehen Eltern heutzutage eine Lehrkraft im Unrecht und ihren Sohn oder ihre Tochter in irgendeiner Weise in der Schule benachteiligt, werden sie aktiv, beschweren sich bei der Dienstaufsicht oder beschreiten sogar den Klageweg. Das wirft grundsätzliche Fragen auf: Was dürfen Lehrer eigentlich und was nicht? Wo warten im Dickicht des Schulrechts besondere Fallstricke? Wir wollen Ihnen Orientierung bieten und haben Experten befragt, was Lehrer im Schulalltag an rechtlichen Aspekten beachten sollten und auch müssen.

Lehrkräfte können derartige Verpflichtungen aber freiwillig übernehmen. In diesem Fall sollten klare Handlungsanweisungen eines Arztes und schriftliche Absprachen mit den Eltern vorliegen.  Lehnen die Lehrkräfte eine freiwillige Verpflichtung ab, müssen die Eltern die notwendige medizinische Versorgung ihrer Kinder sicherstellen, indem sie zum Beispiel das Ablesen von Messwerten üben und bei Klassenfahrten als Begleitpersonen mitfahren oder eine aus schulischer Sicht zumutbare Begleitpersonen benennen.

2. Elterliche Aufsichtspflicht

Die Aufsichtspflicht der Schule erstreckt sich auf die Zeit der Teilnahme der Schüler an Schulveranstaltungen und auf eine gewisse Zeit (in den meisten Ländern 15 Minuten) vor dem Unterrichtsbeginn und nach dem Unterrichtsende. Befinden sich die Schüler nicht im Aufsichtsbereich der Schule, besteht die Aufsichtspflicht der Eltern (OVG NRW, Az.: 19 A 993/07; In: SchulRecht 3-4/2011, S. 28). Die Abgrenzung erfolgt zeitlich und inhaltlich, nicht örtlich. Eltern, die ihr Kind morgens eine Stunde vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulgelände absetzen oder es nach dem Unterrichtsende nicht vom Schulgelände abholen, können die Schule damit nicht zur Übernahme der Aufsichtspflicht zwingen. Das Kind befindet sich dann zwar auf dem Schulgelände, es unterliegt aber weiterhin der Aufsichtspflicht der Eltern und nicht der Aufsichtspflicht der Schule. Allenfalls bei einer konkreten, für anwesende Lehrkräfte erkennbaren Gefahr wäre ein Eingreifen rechtlich erforderlich.

Die Eltern haben aber nicht nur ihre Aufsichtspflicht zu erfüllen, wenn die schulische Aufsichtspflicht endet, sondern sie haben auch erheblichen Anteil an der Gewährleistung der Sicherheit ihrer Kinder in der Schule. Die Verantwortlichkeit der Schule wird „ … auch durch den Umstand eingeschränkt, dass sie nicht die einzige, nicht einmal die primäre Erziehungseinrichtung ist. Es ist Aufgabe der häuslichen Erziehung, dem Kind die Grundregeln zwischenmenschlichen Verhaltens beizubringen; fehlen diese Grundlagen, trifft die Verantwortung für unvorhersehbares Fehlverhalten nicht die Lehrer, sondern die Eltern, die ihre Erziehungspflicht gröblich vernachlässigt haben“(Avenarius 2010, S. 709). Den wichtigsten Beitrag zur Sicherheit der Kinder in der Schule leisten die Eltern mit einer guten Erziehung.

3. Kontinuität, Prävention und Aktivität

Die Aufsichtspflicht dient nicht nur dazu, die Schüler vor Schaden zu bewahren, sondern auch schulfremde Personen zu schützen. Passanten und parkende Autos sind vor Steinwürfen vom Schulgrundstück zu schützen, und bei einer Klassenfahrt müssen  in der Jugendherberge Sachbeschädigungen vermieden werden.

Die Kriterien für die Erfüllung der Aufsichtspflicht ergeben sich aus Vorschriften, vor allem für bestimmte Unterrichtsfächer wie Sport, Schwimmen oder Sachunterricht und  den Vorgaben  für Wanderungen und Klassenfahrten. Die für  jede Aufsichtssituation gültigen Kriterien der Aufsichtsführung sind von der Rechtsprechung entwickelt worden. Sie gelten bundesweit für alle Schulstufen und Schulformen.

Das erste dieser Kriterien ist die kontinuierliche Aufsicht. Eine kontinuierliche Aufsicht erfordert nicht die ständige unmittelbare Beobachtung  der Schüler. Die Kontinuität der Aufsicht ist gegeben, wenn Schüler sich beaufsichtigt fühlen, also davon ausgehen, dass sie grundsätzlich beaufsichtigt werden und nicht ausgeschlossen werden kann, dass jederzeit eine Aufsichtsperson ihr Verhalten kontrollieren könnte.

Schüler, die während einer kurzen Pause im Klassenraum sind, ohne dass eine Lehrkraft anwesend wäre, wissen, dass die Lehrerinnen und Lehrer  auf dem Weg zu ihren Klassenräumen sind, und es jederzeit möglich ist, dass auch eine der nicht zum Unterricht in dieser Klasse eingeteilten Lehrerinnen in den Klassenraum kommen könnte. Die Kontinuität der Aufsicht ist damit gesichert.

Das zweite Kriterium ist die präventive Aufsicht.  Die präventive Aufsicht dient dem Erkennen von Gefahren.  Dabei handelt es sich aber nicht um alle denkbaren und möglichen Gefahren, sondern um naheliegende und wahrscheinliche Gefahren. Es ist jederzeit möglich, dass Schüler einander schubsen, schlagen oder treten. Diese abstrakten Gefahren können auch durch  eine gute Aufsicht nicht ausgeschlossen werden. Aufsichtsführende Lehrkräfte müssen aber erkennen, wenn sich eine konkrete, gefährliche Auseinandersetzung zwischen Schülern abzeichnet.

Das dritte Kriterium ist die aktive Aufsicht. Zu den Mitteln der aktiven Aufsichtsführung gehören Belehrungen, Gebote und Verbote sowie ein aktives körperliches Eingreifen. Lehrkräfte, die zum Schutz vor einer unmittelbaren Gefahr Schüler festhalten, wegziehen oder auf andere Weise körperlich auf sie einwirken, begehen keine Dienstpflichtverletzung, sondern sie erfüllen ihre Aufsichtspflicht. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit eines körperlichen Eingreifens sind daher nicht ausschließlich Notwehr und Nothilfe, auch die Aufsichtspflicht kann ein körperliches Eingreifen rechtfertigen.

Zentraler Bezugspunkt der Aufsichtspflicht ist die Prävention. Von Ausmaß und Art der Gefahrenlage hängt ab, wie kontinuierlich und aktiv die Aufsicht zu führen ist. Zur Gefahrenlage gehören dabei auch das Alter, der Entwicklungsstand und das Verantwortungsbewusstsein der Schüler. Bei behinderten Schülern ist auch die Art der Behinderung zu berücksichtigen. Das Alter lässt Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand und das Verantwortungsbewusstsein zu, entscheidend sind aber immer der tatsächliche Entwicklungsstand und das feststellbare Verantwortungsbewusstsein im Einzelfall.

4. Grenzen der Aufsichtspflicht

Bei der Beurteilung der  Erfüllung der Aufsichtspflicht sind der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, dessen Ziel die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schüler ist, sowie die Möglichkeit und Zumutbarkeit eines konkreten Handelns zu  berücksichtigen.

Eine möglichst lückenlose und intensive Kontrolle des Handelns der Schüler stünde im Widerspruch zum Ziel der Selbstständigkeit der Schüler.  „Bei Grundschulkindern auch schon der ersten und zweiten Klasse ist es nicht angezeigt, ohne konkreten Anlass eine Überwachung durch ständigen Sichtkontakt, wie sie etwa bei Kindergartenkindern noch erfolgen kann und muss, sicherzustellen. Denn es ist Ziel der Erziehung in der Grundschule, den Kindern eine gewisse Eigenständigkeit zu vermitteln, …“ (LG Bonn, Az.: 1 O 110/12; In: SchulRecht 3-4/2013, S. 36). Wäre ausschließlich eine möglichst lückenlose Aufsicht sicherzustellen, dürften Schüler etwa nicht in kleinen Gruppen außerhalb des Unterrichtsraumes Arbeitsaufträge erfüllen, da es sicherer wäre, wenn alle Schüler im Unterricht immer im Klassenraum blieben. Es wäre auch unzulässig, Schüler zur selbstständigen Erledigung kleinerer Aufträge allein aus dem Klassenraum in das Schulsekretariat zu schicken, da es sicherer wäre, wenn niemand den Klassenraum verlassen würde. Die Unterrichtsgestaltung und die Erziehung – auch die Sicherheitserziehung – in der Schule erfordern eine Abwägung pädagogischer Ziele und der Gewährleistung möglichst großer Sicherheit durch Risikovermeidung.

Selbstverständlich kann bei der Erfüllung der Aufsichtspflicht nichts Unmögliches verlangt werden.  Eine Schule wird selbst bei Einteilung des gesamten Kollegiums zur Hofaufsicht nicht mit Sicherheit verhindern können, dass Schüler von Mitschülern während der Pause verletzt werden oder sich selbst verletzen. Im Falle von Steinwürfen der Schüler einer 1. und 2. Klasse vom Schulhof während der Pause auf ein Nachbargrundstück hat das Landgericht Bonn (a. a. O.) festgestellt: Es ist „ … schon von der  Personalausstattung der Schule her jedenfalls auf dem Pausenhof nahezu unmöglich, eine vollständige, permanente Bewachung aller Kinder sicherzustellen.“

Auch die Zumutbarkeit einer Handlung kann die Aufsichtspflicht begrenzen. Ein heftig um sich schlagendes, tretendes und kratzendes Kind muss nicht von einer Lehrerin festgehalten werden, die dazu nur in der Lage ist, wenn sie eigene Verletzungen und gesundheitliche Schäden in Kauf nimmt.

Strafrechtliche, disziplinarrechtliche und arbeitsrechtliche Folgen einer Aufsichtspflichtverletzung  sind selten und führen nicht zu Haftstrafen ohne Bewährung oder der Entlassung aus dem Dienst.

Hier ist der vollständige Beitrag herunterladbar (kostenpflichtig).

Der Autor

Dr. Thomas Böhm ist Dozent für Schulrecht und Rechtskunde am Institut für Lehrerfortbildung in Essen-Werden. Er ist Herausgeber der Zeitschrift „SchulRecht“, deren Schwerpunkte die aktuelle Rechtsprechung zum Schulrecht und Rechtsfragen aus der schulischen Praxis bilden. Seine Handbücher „Schulrechtliche Fallbeispiele für Lehrer“, „Aufsicht und Haftung in der Schule“ und „Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen in der Schule“  erläutern die Rechtslage am Beispiel zahlreicher Fälle.

Es handelt sich um einen aktualisierten Beitrag, der ursprünglich 2018 erschien.

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