
Seit Jahren wird in Baden-Württemberg debattiert, ob Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Gymnasien acht (G8) oder neun Jahre (G9) lernen sollen. Zuletzt waren die Stimmen für eine Rückkehr zu G9 immer lauter geworden, eine Elterninitiative setzte mit einem Volksantrag die Landesregierung zusätzlich unter Handlungsdruck. Nun sollen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über die Frage diskutieren und eine Empfehlung vorlegen.
Worum geht es genau?
Seit 2013 ist in Baden-Württemberg das achtjährige Gymnasium der Standard an den allgemeinbildenden Schulen. G9 gibt es nur noch als Modellprojekt an 44 staatlichen Schulen und an einigen Privatschulen. Zudem können Schülerinnen und Schüler auf beruflichen Gymnasien das Abitur in neun Jahren absolvieren. Über eine Rückkehr zu G9 wird seit langem diskutiert und gestritten, Grün-Schwarz hat aber im Koalitionsvertrag vereinbart, keine Strukturdebatten führen zu wollen.
Nun wurde der Druck offenbar zu groß und eine Bürgerbeteiligung soll den Streit entschärfen. Man habe sich innerhalb der Koalition darauf geeinigt, diese Frage in einem Bürgerforum beraten zu lassen – mit offenem Ergebnis, teilte Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Dienstag in Stuttgart mit.
Warum jetzt die Bürgerbeteiligung?
Kretschmann erhofft sich davon eine «breite und fundierte Debatte, die ganzheitlicher geführt wird, als das bisher der Fall ist». Die Debatte werde derzeit sehr verengt geführt, es gehe aus seiner Sicht ausschließlich um die Frage der gefühlten Überlastung der Schülerinnen und Schüler. Es müsse auch besprochen werden, was eine Rückkehr zu G9 für andere Schularten bedeute, etwa für das berufliche Gymnasium. Mit Bürgerbeteiligungen habe man zudem gute Erfahrungen gemacht: «Sie versachlichen eine Debatte und bringen häufig neue, bisher nicht betrachtete Argumente auf den Tisch.»
Die Landesregierung steht bei diesem Thema auch wegen eines Volksantrags unter Handlungsdruck. Eine Elterninitiative will damit die Rückkehr zu G9 erreichen und sammelt seit November Unterschriften, damit über den Gesetzentwurf im Landtag beraten wird. Die Initiative teilte am Dienstag mit, inzwischen bereits 20.000 der rund 39.000 notwendigen Unterschriften gesammelt zu haben – und will auch trotz der Bürgerbeteiligung mit «unvermindertem Einsatz» weitermachen, sagte eine der Initiatorinnen.
Wie soll die Bürgerbeteiligung ablaufen?
40 bis 60 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen nach den Sommerferien in dem Bürgerforum über die Zukunft der Gymnasien im Land debattieren. Dabei sein sollen nicht nur Bürgerinnen und Bürger mit Abitur, sondern auch solche mit anderen Schulabschlüssen. Sie sollen in einer Anhörung zunächst mit Experten, Verbänden und Betroffenen sprechen und dann eine Empfehlung abgeben. Worüber genau debattiert werden soll, gebe die Landesregierung vor, sagte Kretschmann.
Wer entscheidet am Ende?
Das Bürgerforum soll gemeinsame Empfehlungen erarbeiten. Von den Ergebnissen will sich Kretschmann aber nicht unter Druck setzen lassen. «Wir dürfen nicht den Anschein aufkommen lassen, dass dialogische Bürgerbeteiligung heißt, dass das die verfassungsmäßigen Organe unter Zugzwang setzt», sagte er. Die Entscheidungsorgane seien das Parlament und die Regierung. «So ist das in einer repräsentativen Demokratie. Die Bürger beraten – nicht mehr und nicht weniger», sagte Kretschmann.
Wer ist für die Rückkehr zu G9?
Nur mit G9 könne man die Herausforderungen der Zukunft auch an den Schulen behandeln, argumentieren die Gymnasiallehrerinnen und -lehrer. «Zusätzliche Stunden, die zentral sind, um Schülerinnen und Schüler auf die Gesellschaft der Zukunft vorzubereiten, sind nur mit G9 möglich», sagte Ralf Scholl, Vorsitzender des Philologenverbands. Es brauche mehr Informatikunterricht und wegen des abgesenkten Wahlalters auf 16 Jahre bei Kommunal- und Landtagswahlen auch mehr Zeit für Gemeinschaftskunde in der Mittelstufe. Zudem fehle seit der Einführung von G8 die Zeit für Sportvereine, Musikvereine oder ein Engagement in der Freiwilligen Feuerwehr.
Auch die CDU signalisiert Offenheit für eine Reform. Tiefgreifende Veränderungen in der Bildung müssten sorgfältig abgewogen werden, sagte Fraktionschef Manuel Hagel. «Dabei ist Politik immer gut beraten, nicht stur an einmal getroffenen Entscheidungen festzuhalten, sondern sich immer auch selbst zu hinterfragen.»
Die Opposition ist geschlossen für G9 und kritisierte die Bürgerbeteiligung. Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Stefan Fulst-Blei, sprach von einem «Feigenblatt». Es brauche keine Diskussionsrunden, sondern Entscheidungen. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke forderte ebenfalls eine schnelle Rückkehr zu G9: «Einfach machen. Das ist nicht kompliziert: Die Bevölkerung will es, und für die Schüler ist es gut.» Man brauche dafür keine «langwierigen Laberrunden». Die AfD sprach von einer «Nebelkerze».
Wer ist gegen die Rückkehr zu G9?
Kretschmann warnt seit langem vor einer Rückkehr zu G9 und sprach sich erneut dagegen aus. «Meine Haltung in der Frage hat sich nicht geändert», sagte er. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) begrüßte das Beteiligungsverfahren, betonte aber auch, dass sie andere Probleme für drängender halte: «Die großen Herausforderungen in unserem Bildungssystem liegen im vorschulischen und im Grundschulbereich.» Von David Nau, dpa
Der Beitrag wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers heiß diskutiert.
Opposition fordert von Kretschmann, G9 wieder einzuführen – erfolglos