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In vier Bundesländern ballt sich die Kinderarmut – Brennpunkt-Schulen dort kämpfen auf verlorenem Posten

BERLIN. Kinderarmut verteilt sich in Deutschland sehr ungleich. Das zeigt eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), in der erstmals für die Einzugsgebiete aller Grundschulen die Kinderarmutsquoten berechnet wurden. Der Befund sollte politische Konsequenzen haben, meint der Autor.

Wohnblock in Gelsenkirchen, der am meisten von Kinderarmut betroffenen Stadt in Deutschland: Zwei von fünf Kindern leben hier laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung unterhalb der Armutsgrenze – doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. In den Nachbarstädten im Ruhrgebiet sieht es kaum besser aus. Foto: Shutterstock

„Soziale Bildungsungleichheiten stellen eine der größten Herausforderungen für das deutsche Schulsystem dar. Dass der Bildungserfolg in Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhängt, bestreiten mittlerweile die wenigsten“, so heißt es in der Studie von WZB-Forscher Prof. Marcel Helbig.

Und weiter: „Diese individuellen sozialen Ungleichheiten manifestieren sich als strukturelle Probleme dort, wo besonders viele sozial benachteiligte Kinder eine Schule besuchen. Als ‘Brennpunktschulen’ oder Schulen in schwieriger Lage bezeichnet, weisen diese Schulen deutlich schlechtere Bildungsergebnisse auf als Schulen, in denen nur wenige soziale
Problemlagen vorherrschen. Dass sich soziale Problemlagen ungleich verteilen, hängt gerade im Grundschulbereich (wo vor allem die wohnortnahe Schule besucht wird) damit zusammen, dass sich die Wohnlage von Menschen in Deutschland am Einkommen orientiert. Innerhalb Deutschlands und vor allem innerhalb deutscher Städte entstehen so Quartiere, in denen sich arme Familie ballen. Man spricht hierbei von einer residentiellen sozialen Segregation, die sich in eine soziale Segregation von Schulen übersetzt. Darüber hinaus führt die frühe Trennung von leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Schülern und Schülerinnen ab der 5. Klasse dazu, dass Kinder sozial privilegierter Gruppen weit überdurchschnittlich an Gymnasien zu finden sind und sozial benachteiligte Gruppen vor allem an nicht-gymnasialen Schulformen anzutreffen sind.“

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„Bedingt durch die schlechtere individuelle Ressourcenausstattung der Familien an diesen Schulen sind die Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen im Schnitt schlechter“

In vielen Studien, vor allem aber in vielen kommunalen Bildungsberichten, zeige sich immer wieder, dass mit steigendem Anteil armer Kinder an einer Schule die Bildungsergebnisse schlechter würden. „Diese Ergebnisse kommen hauptsächlich dadurch zu Stande, dass sich an Schulen mit einem hohen Armutsanteil mehr ökonomisch arme Familien und Eltern mit niedriger Bildung befinden. Diese Aspekte korrelieren zudem mit der Migrationsgeschichte der Kinder. Bedingt durch die schlechtere individuelle Ressourcenausstattung der Familien an diesen Schulen sind die Kompetenzen der Schüler und Schülerinnen im Schnitt schlechter, die Übertrittsquoten auf das Gymnasium geringer und die erreichten Bildungsabschlüsse niedriger.“

Der Studie zufolge liegen die meisten Schulen mit einem hohen Anteil armer Kinder in Nordrhein-Westfalen und in den drei Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin. Bayern und Baden-Württemberg weisen den geringsten Anteil an Grundschulen mit hoher Kinderarmut auf. In der Studie berechnet Helbig auch, welche Mittel jedes Bundesland bekäme, wenn das von der Ampelkoalition geplante Startchancenprogramm diese Armutsquoten zur Grundlage der Verteilung nehmen würde.

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, sozial ungleiche Startchancen der Schüler und Schülerinnen auszugleichen, indem besonders benachteiligte allgemeinbildende und berufsbildende Schulen gezielt unterstützt werden sollen. Über das sogenannte Startchancenprogramm sollen 4.000 Schulen durch Investitionsmittel für Schulbau, ein sogenanntes Chancenbudget sowie zusätzliche Mittel für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen unterstützt werden. Die Schulen, die gefördert werden
sollen, sollen jene sein, die sich durch einen hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern auszeichnen, die Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) haben. Derzeit verhandeln Bund und Länder über die Verteilung der Mittel.

In seiner Studie hat Marcel Helbig die Armutsquoten in den Einzugsbereichen aller öffentlichen Schulen mit Grundschulzweig zugrunde gelegt und zeigt, wie die Mittel des Startchancenprogramms verteilt werden müssten, wenn man allein die Armutsquoten im schulischen Umfeld heranzieht. Die Kinderarmutsquote gibt Auskunft über den Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern SGB-II-Leistungen (heute „Bürgergeld“) beziehen.

Zuletzt wurden Bundesmittel für Schulen – etwa für das Programm „Aufholen nach Corona“ – nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel verteilt. Dieser orientiert sich an der Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft der Bundesländer. Da sich Schulen mit hohem Anteil armer Kinder aber nicht gleichmäßig über die Bundesländer und Landkreise verteilen, sei dieser Schlüssel wenig zielführend, meint der WZB-Forscher. Er schlägt stattdessen vor, die Armutsquote als Grundlage der Mittelverteilung zu nehmen. „Die Verteilung der Gelder wäre ungleicher, aber fairer. Die Mittel würden die Schulen erreichen, die sie am dringendsten brauchen“, sagt er. „Es liegt nahe, vor allem diese Schulen zu unterstützen.“

Würde der Bund über das Startchancenprogramm ausschließlich die Schulen mit dem höchsten Anteil armer Kinder fördern, erhielten Bayern und Baden-Württemberg nur einen Bruchteil der geplanten Mittel. Bremen, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt würden dagegen deutlich stärker profitieren als bisher angenommen. Das gilt auch für Schulen in größeren Städten: Sie bekämen mehr Geld als Schulen auf dem Land. Nur Brandenburg bildet eine Ausnahme. Hier würden Schulen in ländlichen Räumen mehr Mittel aus dem Startchancenprogramm erhalten, wenn sich diese an den Kinderarmutsquoten orientierten.

„Die politische Umsetzbarkeit des hier vorgeschlagenen Verteilungsmechanismus ist jedoch wenig realistisch“

Viel Hoffnung, dass sich die Politik von der Vernunft leiten lässt, hat Helbig allerdings nicht. „Die politische Umsetzbarkeit des hier vorgeschlagenen Verteilungsmechanismus ist jedoch
wenig realistisch. Da einige Bundesländer nur einen Bruchteil der Mittel erhalten würden, die ihnen über andere Verteilungsmechanismen zukämen, ist eher mit geringer Zustimmung dieser Länder zu rechnen“, so schreibt er. Bereits ein in einem Eckpunktepapier des Bundesbildungsministerium vorgeschlagener Verteilungsmechanismus, der sich ein Stück weit an sozialen Kriterien der einzelnen Schulen orientiere, stoße auf massive Kritik aus Reihen der Länder. Anders ausgedrückt: Partikularinteressen gehen – wie immer – vor. News4teachers / mit Material der dpa

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