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Gewalt in deutschen Kitas: Erzieherin nach „Team Wallraff“-Enthüllungen entlassen

DÜSSELDORF. Die Kita, ein Ort, an dem sich Kinder sicher und geborgen fühlen, wo sie miteinander spielen können und tagtäglich Neues lernen. Das wünschen sich Eltern wohl von der Einrichtung, in die sie morgens ihr Kind bringen. Doch die Realität sieht manchmal ganz anders aus. Das zeigt die Reportage „Team Wallraff: Undercover in Kitas – Was passiert mit unseren Kindern?“. Über einen Zeitraum von zwei Jahren recherchierte das Team rund um den Investigativjournalisten Günter Wallraff in drei verschiedenen Kindertagesstätten in Süddeutschland. Reporterin Alesia absolvierte dafür in den Kitas jeweils ein Praktikum, um Einblicke in den Alltag der Einrichtungen zu erhalten. Dort beobachtete sie Vernachlässigung, physische und psychische Gewalt. Nach Informationen des Fernsehsenders RTL, der den Beitrag ausstrahlte, haben die ersten Aufsichtsbehörden nun Konsequenzen gezogen.

Getarnt als Praktikantin erlebte die „Team Wallraff“-Reporterin, wie fehlerbehaftet das deutsche Kita-System sein kann. Symbolfoto: Shutterstock

Ein zweijähriges Mädchen, dem die Erzieherin beim Mittag den Nachtisch streicht, weil es seinen Teller nicht leer gegessen hat, ein weinender Junge, ein Jahr alt, den sie und ihre Kolleginnen elf Minuten lang nicht trösten, ein Zweijähriger mit Förderbedarf, den dieselbe Fachkraft am Boden sitzend zwischen ihren Beinen einklemmt – diese grausigen Szenen stammen aus der „Team Wallraff“-Reportage. Reporterin Alesia hat sie – getarnt als Praktikantin – verdeckt aufgenommen.

Experte warnt vor negativen Konsequenzen

„Das ist schon sehr bedenklich“, kommentiert Kinder- und Jugendpsychiater Lutz-Ulrich Besser, nachdem er die Aufzeichnung des minutenlang weinenden Jungen gesehen hat. Er ordnet für das „Team Wallraff“ die einzelnen Szenen ein, nennt mögliche Konsequenzen. Als „ziemlich Katastrophal“ bezeichnet er beispielsweise, wie die Erzieherin die Kinder zum Essen zwingt oder bestraft, wenn sie nicht aufessen. Auf diese Weise werde die Nahrungsaufnahme mit Stress und negativen Assoziationen besetzt. „Die Kinder lernen dann nicht, dem normalen Hungergefühl zu folgen“, so der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zu einem anderen Zeitpunkt in derselben Kita droht dieselbe Erzieherin einem weinenden Zweijährigen, der sich nicht beruhigen kann, ihn allein in den Schlafraum zu sperren. „Muster der Übererregung, die mit druck- und angstauslösenden Aspekten beantwortet werden, die brennen sich ein“, sagt der Experte, „und diese Kinder entwickeln mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn das nicht kompensiert werden kann durch ein sehr liebevolles Elternhaus, Auffälligkeiten.“

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Konfrontiert mit den von der Reporterin beobachteten Vorfällen streitet die betroffene Einrichtung über eine Anwaltskanzlei alle Vorwürfe ab. „In der Einrichtung unserer Mandantin arbeitet niemand mit Drohungen; weder gegenüber Kindern noch sonst jemandem gegenüber. Es sind unserer Mandantin auch keine Beispiele bekannt und kann daher auch nicht sein, dass ‚Kindern z. B. gedroht wird, allein in den Schlafraum geschickt zu werden, wenn sie nicht aufhören zu weinen‘.“ Und: „Nein, es stimmt nicht, dass in der Einrichtung unserer Mandantin […] auf Kinder Druck und/oder Zwang beim Essen ausgeübt wird. Wenn ein Kind dann auch nicht (auf-)essen möchte, muss es das natürlich auch nicht. Auch nicht, um ‚anschließend [die] Lieblingsnachspeise zu erhalten‘.“

Auch der Träger der Einrichtung, in der Alesia beobachtet hat, wie Mitarbeitende die Kinder mit Förderbedarf grob anfassen und anschreien, weist dies zurück. Die dritte Einrichtung, in der Erzieherinnen während Alesias Praktikumszeit Kinder aus fragwürdigen Gründen nach Hause schickten oder trotz voller Windel nicht wickelten, äußerte sich zu den Vorwürfen nicht.

Mögliche Ursachen der beobachteten Missstände

Auf der Suche nach den Ursachen, die die beobachteten Missstände begünstigen, führt die Reportage des „Team Wallraff“ unter anderem den Fachkräftemangel an. „Es fehlen zuallererst mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen“, sagt Investigativjournalist Günter Wallraff. Kein Wunder: Fast 63 Prozent der Kita-Kinder in Westdeutschland und 90 Prozent der Kinder in Ostdeutschland besuchen laut Bertelsmann-Stiftung Kita-Gruppen „mit nicht kindgerechten Personalschlüsseln“. Für eine kindgerechte Betreuung sollte nach Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung eine pädagogische Fachkraft maximal für drei Kinder unter drei Jahren beziehungsweise für acht Kinder ab drei Jahren verantwortlich sein.

Hinzu kommen Personalausfälle, die eine unzureichende personelle Grundausstattung verschlimmern. Der DKLK-Studie 2023 zufolge, eine bundesweite Befragung unter 5.387 Kitaleitungen, arbeiteten im Jahr 2022 rund fast zwei Drittel der befragten Kitaleitungen geschätzt in mehr als 20 Prozent der Zeit mit aufsichtspflichtrelevanter Personalunterdeckung. Vielleicht ist der Personalmangel auch der Grund, weshalb Reporterin Alesia bei insgesamt 13 Bewerbungen um ein Praktikum nur dreimal ein polizeiliches Führungszeugnis einreichen und nur in einer Einrichtung ihren Personalausweis vorlegen musste. Darüber hinaus erklärt Kinder- und Jugendpsychiater Besser gefilmtes Fehlverhalten auch mit mangelnder Qualifikation. Er mutmaßt beispielsweise, dass Wissen über moderne Erkenntnisse der Bindungsforschung fehle.

Schlechte Rahmenbedingungen bezeichnen auch die Kita-Fachkräfteverbände der Bundesländer, neben persönlichem Fehlverhalten, in einer gemeinsamen Stellungnahme zur Reportage „als Nährboden für verletzendes Verhalten und Vernachlässigung in Kitas“. „Überforderung und Stress des Personals führen dazu, dass auf kindliche Grundbedürfnisse nicht adäquat eingegangen wird und es an individueller Zuwendung und Fürsorge fehlt.“ Wenn Institutionen wie Städte- und Gemeindebünde oder der Deutsche Kitaverband forderten, dass eine Fachkraft noch mehr Kinder betreuen und Personal rekrutiert werden soll, das kein oder wenig frühpädagogisches Fachwissen mitbringt, oder auf persönliche Eignung des Personals wenig Wert gelegt werde, leiste das prekären Bedingungen Vorschub. „Eine Betreuung um jeden Preis darf es nicht geben.“ Das Wohl des Kindes müsse im Kita-Alltag an erster Stelle stehen.

Forderung nach mehr Qualität

Die Kita-Fachkräfteverbände der Bundesländer fordern daher eine Qualitätsdebatte über entwicklungsförderliche Bedingungen in Kitas und konsequenten institutionellen Kinderschutz. Jede Kita ist zwar gesetzlich verpflichtet, ein Kinderschutzkonzept zu erstellen, doch „solange diese Konzepte in der Praxis nicht gelebt und umgesetzt werden, verfehlen sie ihren Sinn“. Für einen gelebten Kinderschutz bräuchten Kita-Fachkräfte gesetzlich verankerte und verpflichtende Fortbildungsangebote und Reflexionsmöglichkeiten. „Nur so kann gewährleistet werden, dass sie auf dem Stand der neuesten entwicklungspsychologischen und bindungstheoretischen Erkenntnisse sind und lernen, das eigene Verhalten zu reflektieren und an der eigenen Haltung zu arbeiten.“ Gleichzeitig müsse der Kita-Alltag so gestaltet werden, dass er weder Kinder noch Fachkräfte überfordert und zu Dauerstress führt.

Zustimmung erhalten die Kita-Fachkräfteverbände unter anderem vom Landeselternausschuss (LEA) Rheinland-Pfalz: „Strukturen, die Gewalt an Kindern verhindern sollen, haben wir viele im Kita-System. Sie bewirken aber für sich allein genommen nichts. Sie müssen von Menschen mit Leben gefüllt und umgesetzt werden.“ Das Gremium wünscht sich eine stärkere „Zusammenarbeit der Verantwortungsgemeinschaft“. „Nicht nur jede Fachkraft ist gefordert, sondern alle Erwachsenen, die Teil des Kita-Systems sind“, sagt Karin Graeff, Vorsitzende des LEA Rheinland-Pfalz. Eltern, pädagogische Fachkräfte, Leitungen und Träger der Tageseinrichtung sowie die Jugendämter auf örtlicher- und Landesebene könnten vor Ort eine ganze Menge tun, um Situationen, wie sie in der Reportage zu sehen sind, zu verhindern.

Im Nachgang der Reportage haben sich die Aufsichtsbehörden der gezeigten Einrichtungen nach Informationen von RTL den Missständen angenommen. In zwei Fällen befinden sie sich mit den Träger*innen der Einrichtungen in intensivem Austausch und begleiten die weitere Entwicklung. Im dritten Fall beabsichtigt die Verwaltung einen Trägerwechsel. Darüber hinaus hat sie der Erzieherin gekündigt, die die Kinder unter anderem zum Essen gezwungen und ihnen mit Strafen gedroht hatte. News4teachers

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