
«Wiwu-wiwu-wiwu» – mit lautem Geheul sausen die kleinen Feuerwehrleute um Karsten Lange herum. Der 30-Jährige grinst und macht die Tür zum Sportzimmer auf. Dort können sich seine Schützlinge richtig auspowern. Der Erzieher ist im Karlsruher element-i-Kinderhaus «Sterngucker» für den Bereich Körper-Bewegung-Ernährung zuständig. Zu seinen Aufgaben gehört aber auch, dass er bei Geburtstagen Krönchen mit den Kids bastelt oder die Jüngsten wickelt. Ganz normale Tätigkeiten in einer Kita. Männer, die mit Kindern arbeiten wollen, stoßen aber nicht selten auf Vorbehalte, vor allem von Eltern.
«Dies ist ein Phänomen, das wir immer wieder beobachten und ein heikles Thema bleiben wird», sagt Susanne Sargk vom Verband Bildung und Erziehung (VBE). Die Leiterin des VBE-Landesreferats Kita in Baden-Württemberg weiß noch, wie sich alle in ihrer Kita freuten über den hoch motivierten Kollegen, den die Zeitarbeitsfirma vermittelt hatte. «Er war für unser Team wirklich eine große Unterstützung.» Dennoch hätten sich Eltern sofort gegen ihn ausgesprochen. Letztlich musste der Kollege gehen. Man könne nicht auf Dauer gegen Eltern arbeiten, so Sargk.
Die Ängste
«Wir brauchen so dringend Männer. Es wäre bedauerlich, wenn vielen pädagogischen Fachkräften der Beruf durch Vorbehalte verdorben wird», sagt Anja Braekow vom Berufsverband für Kita-Fachkräfte. Sie weiß aber auch: «Jeder Mann, der seinen Fuß in eine Kita setzt, tritt in ein Haifischbecken.» Teils wird Männern die Arbeit mit Kindern schlicht nicht zugetraut. Teils gibt es Missbrauchsängste. Genährt werden die von Berichten wie neulich, als ein Erzieher einer Kita in Nordbaden wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Wickel-Kindern in Untersuchungshaft kam.
Die Fakten
Faktisch begründet sind solche Ängste nicht. Der Verband VBE spricht von Einzelfällen. Statistisch geschehe Kindesmissbrauch überwiegend im familiären und privaten Umfeld und nicht in Kindertagesstätten oder an Grundschulen. Auch Sima Arman-Beck vom Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS), sagt: «Pauschale Vorbehalte gegenüber Männern in Kitas sind grundsätzlich nicht begründet.» Im Jahr 2022 wurden dem Verband aus den 9.646 Kitas im Land 32 Fälle von sexueller Gewalt, sexuellen Übergriffen sowie sexuell grenzverletzendem Verhalten ausgehend vom Personal gemeldet. Ob Männer oder Frauen Täter waren, geht aus den Zahlen nicht hervor.
Insgesamt bewegen sich Fälle des sexuellen Missbrauchs in Baden-Württemberg «mit der Tatörtlichkeit “Kindergarten/Kinderhort”» gemäß Kriminalstatistik in den Jahren 2018 bis 2022 auf einem «niedrigen zweistelligen Niveau». Ausnahme war das Jahr 2021: Da wurden dem Innenministerium zufolge in einem umfangreichen Ermittlungsverfahren mehrere Taten aufgedeckt und 56 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern aufgelistet. «Jeder Fall ist einer zu viel», heißt es aus dem Ministerium. Die Polizei verfolge jeden einzelnen Fall akribisch, konsequent und mit höchster Priorität. Für 2023 sei tendenziell ein leichter Anstieg der Straftaten gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen.
Die Schutzkonzepte
Um es erst gar nicht dazu kommen zu lassen, sind Kita-Träger seit 2021 verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln. Sie müssten für jede Einrichtung erarbeitet und auch gelebt werden, betont Benjamin Lachat, der Sozialdezernent des Städtetags. Auch wenn er auf die Umsicht vor Ort vertraut, räumt er ein: «So schlimm es ist, wir werden es nicht zu 100 Prozent vermeiden können.» Männer will er jedenfalls nicht unter Generalverdacht sehen: «Übergriffiges Verhalten ist keine Frage des Geschlechts.»
Ob polizeiliches Führungszeugnis für Erzieher, klare Verhaltensregeln wie nicht auf den Schoß nehmen von Kindern oder offene Türen bei der Schlafwache – bei allen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen wird es in der Erziehungsarbeit immer Grenzsituationen geben, sagt VBE-Expertin Sargk. Auch, weil Kleinkinder Nähe suchten.
Jedes Schutzkonzept kann zudem in der Praxis an seine Grenzen kommen. Erst recht bei Personalmangel. Der führe in Kitas oft zu Stresssituationen, so die Bildungsgewerkschaft GEW. «Erzieherinnen und Erzieher schaffen es dann nicht immer, ihren pädagogischen Ansprüchen gerecht zu werden.»
Die Gesuchten
Nur etwas über sechs Prozent der über 124.000 Kita-Beschäftigten in Baden-Württemberg sind männlich. Dass es daran liegen könnte, dass Kitas vorbeugend lieber Frauen als Männer einstellen, wird überall verneint. «Die Personalnot ist dermaßen groß, dass die Einrichtungen es sich gar nicht leisten können, eine geschlechtsspezifische Auswahl treffen zu können», meint VBE-Bundes- und Landeschef Gerhard Brand. Nach den Zahlen des Statistischen Landesamtes differiert der Männeranteil aber je nach Träger: So wurde im März vergangenen Jahres bei kirchlichen Kita-Trägern mit 5,2 Prozent nicht mal halb so viel männliches pädagogisches Personal aufgelistet wie bei sonstigen freien Trägern (11,4 Prozent). Öffentliche Träger lagen bei 6,3 Prozent.
Man freue sich an Kitas wie auch an Grundschulen über jede männliche Bewerbung, betont Brand. Um das gesellschaftliche Miteinander einzuüben, muss es männliche und weibliche Rollenvorbilder geben, meint die Bildungsgewerkschaft GEW. Auch Eltern wünschen sich mehr Erzieher, wie vor sechs Jahren eine Repräsentativbefragung des DELTA-Instituts für Sozial- und Ökologieforschung ergab.
Um mehr männliche Fachkräfte zu gewinnen, müsste aus Sicht der GEW der Erzieherberuf nicht nur besser bezahlt werden; er müsste auch an Ansehen gewinnen. Das Land tut etwas: Es hat eine «praxisintegrierte Erzieherausbildung» mit vergüteter Ausbildung entwickelt. Damit ist Baden-Württemberg dem Kultusministerium zufolge Vorreiter. Der Männeranteil betrug demnach im Schuljahr 2022/2023 bei der praxisintegrierten Ausbildung 15,4 Prozent – in der herkömmlichen Erzieherausbildung lag er bei 12,4 Prozent.
Der Spagat
Karsten Lange wollte an sich Informatik und Physik studieren. Als er im Freiwilligen Sozialen Jahr in eine Kita reinschnupperte, sattelte er jedoch um: «Es hat gepasst.» Ob er anderen Männern auch zu dem Beruf raten würde? «Jederzeit», sagt er. Seit zweieinhalb Jahren ist Lange im Kinderhaus «Sterngucker». Als einziger Erzieher unter 14 Erzieherinnen. Ein Problem war das hier nie.
Lange liebt seine Arbeit. Den Spagat zwischen Nähe und Distanz übt der Erzieher dennoch täglich. So streckt er seine Arme aus, um Nähe anzubieten, wenn sie gebraucht wird. Schon sehr kleine Kinder senden nach seiner Beobachtung klare Signale aus. Ein Wegdrehen müsse von den Erziehenden dann genauso akzeptiert werden, wie die Kinder hinnehmen müssten, dass die Erziehenden nicht Mama und Papa sind. «Es ist nicht unser Job, Kinder zu bekuscheln», sagt er.
Dass Männer zuweilen unter besonderer Beobachtung stehen, hat Lange während seiner über achtjährigen Tätigkeit im Erziehungsbereich immer wieder erfahren. Schon in der Ausbildung warnte der Lehrer: «Jungs müssen vorsichtiger sein.» Und nicht alle Eltern passte es, dass der angehende Erzieher die unter Dreijährigen umziehen und wickeln sollte. Die Leiterin der damaligen Einrichtung bestärkte jedoch den Azubi in seiner Aufgabe. Die Eltern mussten es hinnehmen. Von Susanne Kupke, dpa