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Kindesmissbrauch: „Es gibt keine eindeutigen Anzeichen“ – 2. Teil des News4teachers-Interviews mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung

DÜSSELDORF. Erwachsene können sich sehr gut vorstellen, was es bedeuten würde, fälschlicherweise des Kindesmissbrauchs verdächtigt zu werden – und das sei ein Problem, sagt die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Kerstin Claus. Dies führe zu einem Schulterschluss in der Erwachsenenwelt und habe für betroffene Kinder fatale Folgen. Claus wünscht sich daher einen Perspektivwechsel, weg von den Erwachsenen, hin zu den Kindern. Wie ein solches Umdenken in Bildungsinstitutionen gelingen kann, darüber spricht die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung im zweiten Teil des News4teachers-Interviews.

Hier geht es zurück zu Teil 1 des Interviews.

Kommt in der Kita der Verdacht auf, dass ein Kind sexualisierte Gewalt erlebt, gilt es, in Ruhe nach dem Interventionsplan vorzugehen, so die Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus. Symbolfoto: Shutterstock/Ann in the uk

News4teachers: Gibt es Anzeichen, dass ein Kind Opfer sexualisierte Gewalt ist, auf die Leitungskräfte und pädagogische Fachkräfte im Kita-Alltag achten können?

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Claus: Es ist schwer, sexuellen Missbrauch zu erkennen, es gibt keine eindeutigen Merkmale oder Anzeichen. Sexuelle Gewalt ist eine verstörende Erfahrung und Kinder verändern sich oft dadurch. Beispielsweise ziehen Kinder sich plötzlich zurück oder werden aggressiv. Es kann auch sein, dass Kinder, die sexuelle Gewalt erleben oder zum Beispiel pornografischen Darstellungen ausgesetzt sind, anfangen, Erlebtes oder Gesehenes zu imitieren – und damit ein Verhalten zeigen, das nicht altersangemessen ist. In diesen Situationen ist es wichtig, Wege zu finden, mit dem Kind ins Gespräch zu kommen.

News4teachers: Wie sollte eine Kitaleitung im Falle eines Verdachts vorgehen?

Claus: Egal, ob es sich um einen sexuellen Übergriff unter Kindern handelt oder ob eine Fachkraft der Kita in Verdacht steht oder eine Person aus dem privaten Umfeld des Kindes, entscheidend ist, in Ruhe und nach einem klaren Interventionsplan vorzugehen. Dieser sollte als Teil des Schutzkonzepts ja bereits ausgearbeitet sein und klar aufzeigen, was zu tun ist und an welche externe Fachstelle sich die Kitaleitung im Falle eines Verdachts wenden kann, um darüber hinaus das weitere Vorgehen abzuklären. In der Regel ist das die „insofern erfahrene Fachkraft“, die meist bei der Fachberatungsstelle vor Ort zu finden ist. Zudem ist es wichtig, Äußerungen des Kindes oder wahrgenommene Signale systematisch zu dokumentieren, und zwar möglichst, ohne diese gleich zu interpretieren. So kann dann systematisch geprüft werden.

Wichtig ist, dass keinesfalls mutmaßliche Täter oder Täterinnen direkt konfrontiert werden, bevor das betroffene Kind geschützt ist. Denn sonst besteht die Gefahr, dass das Kind bedroht und unter Druck gesetzt wird, alles wieder zurückzunehmen beziehungsweise nichts zu verraten. Das mutmaßlich betroffene Kind braucht vor allem Ruhe und Stabilität. Je mehr es kindgerecht und altersangemessen in die erforderlichen Schritte einbezogen wird und so Klarheit über das weitere Vorgehehen erhält, desto besser wird es befähigt sein, den notwendigen Prozess mitzugehen, eigene Bedürfnisse zu äußern und die Folgen der Taten Stück für Stück zu bearbeiten.

Kerstin Claus übernahm 2022 das Amt der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Foto: Barbara Dietl

News4teachers: Wie lässt sich im Falle eines Verdachts gegen die Angst argumentieren, jemanden fälschlicherweise zu verdächtigen?

Claus: Der Schutz vor sexueller Gewalt und die Intervention dagegen sind klassische Elemente eines Schutzkonzeptes. Es gibt Prüfschritte, die ruhig und nach einem vorab ausgearbeiteten Schema durchgegangen werden können. Wenn sich im Rahmen dieser Prüfung herausstellt, dass ein Verdacht ausgeräumt werden kann, weil ihm beispielsweise ein Missverständnis zugrunde lag oder er durch die unbeabsichtigt suggestive Befragung eines Kindes durch seine besorgten Eltern entstanden ist, dann kann auf Grundlage des Schemas auch umfassend rehabilitiert werden, nach den ebenfalls im Vorfeld festgelegten Vorgaben. Solche stabilen Prozesse, transparent kommuniziert, sind wichtig, um die Angst zu nehmen, etwas falsch zu machen.

Ein Problem ist ja immer wieder, dass wir uns sehr schnell vorstellen können, was es für uns heißen würde, wenn wir beschuldigt werden würden. Das führt im Umkehrschluss schnell zu einer Loyalität und einem Schulterschluss in der Erwachsenenwelt und macht uns gleichzeitig blind gegenüber existierenden Täterstrategien, die ja nicht nur auf das Kind zielen, sondern auch auf uns Erwachsene aus dem Umfeld des jeweiligen Kindes. Wir alle müssen uns daher fragen, warum wir weniger Angst davor haben, ein von sexueller Gewalt betroffenes Kind nicht zu identifizieren, als möglicherweise eine falsche Beschuldigung gegenüber einem Erwachsenen in den Raum zu stellen. Dabei wissen wir, dass es am Ende so viel mehr Kinder gibt, die keine Hilfe bekommen, als Beschuldigungen, die sich am Ende als haltlos herausstellen.

News4teachers: Wenn sich ein Verdacht bestätigt hat, wie lässt sich ein solcher Fall im Nachhinein in der Kita aufarbeiten?

Claus: Eine sehr wichtige Frage. Zunächst hilft dabei wieder das Schutzkonzept. Wenn eine Einrichtung dieses im Vorfeld transparent in der Kita kommuniziert und alle Mitarbeitenden in die Ausgestaltung einbezogen hat, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass es bei einem bestätigten Verdacht zu massivem Druck von außen kommt. Nachfragen der Elternschaft wird es zwar trotzdem geben, aber die Einrichtung kann auf das Interventionskonzept im Schutzkonzept verweisen und darauf, dass sie entsprechende Schritte einleitet oder eingeleitet hat, den Vorfall also transparent aufklärt – und im besten Fall auch umfassend aufarbeitet.

Im Fokus sollten zudem das betroffene Kind und seine Bedürfnisse stehen. Diese pro-aktive Nachsorge ist wichtig: Wir wissen zum Beispiel, dass die Rückkehr in den Alltag, also spielen zu können und ein Kind unter vielen zu sein, eine sehr heilsame Wirkung hat. Die Frage lautet daher: Wie lässt sich erreichen, dass das Kind in der Kita bleiben kann? Hier kann es hilfreich sein, sich von außen Unterstützung zu holen und die Aufarbeitung extern moderieren zu lassen. Eine Ansprechperson außerhalb der Kita bietet etwa die Chance, dass Eltern Sorgen äußern und Fragen stellen können, ohne Druck zu erzeugen und die Einrichtung in eine Verteidigungshaltung zu bringen. Zudem kann eine externe Begleitung für das Kind auch außerhalb der Kita über ein sozialpädagogisches Angebot dazu beitragen, zu stabilisieren, damit das Kind in der Einrichtung bleiben kann. Je schneller für das Kind eine selbstverständliche Normalität in einem vertrauten Umfeld geschaffen werden kann, desto besser wird es mit den Folgen der sexuellen Gewalt umgehen können.

Zur Nachsorge gehört auch, dass das Kita-Team begleitet wird, denn sexueller Missbrauch in der eigenen Einrichtung bringt eine extreme Belastung für das Team mit sich, oftmals bis hin zu zerstörerischen Dynamiken untereinander. Manche erleben massive Schuldgefühle, weil sie nichts bemerkt haben, andere konzentrieren sich auf die Person, die den Verdacht gemeldet hat, machen sie für die Folgen verantwortlich. Wieder andere fühlen sich dem restlichen Team gegenüber überlegen, weil sie es (vermeintlich) immer schon wussten. Die Fürsorgepflicht ernstnehmen heißt hier, Unterstützung, beispielsweise durch Supervision, anzuregen und zu ermöglichen.

Unser gemeinsames Ziel muss es deswegen sein, dass alle im Kinderschutz Verantwortung übernehmen und wissen, wie sie im Verdachtsfall handeln können. Das gilt selbstverständlich für Fachkräfte in der Kita, aber letztlich auch für das familiäre Umfeld des Kindes – und uns alle.

News4teachers / Anna Hückelheim, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Mehr zum Thema

Das Interview mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Kerstin Claus ist in einer kürzeren Version in der Ausgabe 1/2024 der Zeitschrift DIE KITALEITUNG erschienen. Das aktuelle Heft widmet sich im ersten inhaltlichen Schwerpunkt der Frage, wie Kindertagesstätten zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt beitragen können – präventiv und in Akutsituationen. Allerdings, und das macht das zweite Schwerpunktthema der Ausgabe deutlich, stoßen die Einrichtungen hier in der praktischen Arbeit an Grenzen: Der Kita-Fachkräftemangel hat ein dramatisches Ausmaß angenommen.

Produziert von der Agentur für Bildungsjournalismus (die auch News4teachers inhaltlich gestaltet) im Auftrag des Informationsdienstleisters Wolters Kluwer erscheint DIE KITALEITUNG seit 2018 vierteljährlich.

Die digitale Version der Ausgabe 1/2024 können Sie hier kostenfrei herunterladen – eine gemeinsame Aktion von Wolters Kluwer und der Agentur für Bildungsjournalismus.

Hier geht es zum ersten Teil des Interviews mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) Kerstin Claus:

Was Kitas für die Prävention tun sollten – die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung im News4teachers-Interview

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