WIESBADEN. Deutschland altert – und das hat dramatische Folgen für die junge Generation. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani fordert eine radikale Neuorientierung: Senioren sollen Verantwortung übernehmen – für die Schulen, für die Kitas, für die Gesellschaft.
Nur noch jeder zehnte Mensch in Deutschland ist zwischen 15 und 24 Jahren alt. Der Anteil junger Menschen in der Bevölkerung ist damit auf einem historischen Tiefstand – und das schon seit Jahren. Ohne Zuwanderung wäre er sogar noch deutlich niedriger. Eine demografische Entwicklung mit drastischen Folgen für Schule, Bildung und Gesellschaft. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani fordert deshalb: Die ältere Generation muss sich engagieren – sonst droht der Kindheit in Deutschland der endgültige Bedeutungsverlust.
Zahlen einer alternden Gesellschaft
Zum Internationalen Tag der Jugend am 12. August veröffentlichte das Statistische Bundesamt aktuelle Daten, die aufhorchen lassen: Ende 2024 lebten in Deutschland gut 8,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren – das entspricht nur noch 10,0 % der Gesamtbevölkerung. Bereits seit Ende 2021 liegt der Anteil auf diesem historischen Tiefstand.
Zum Vergleich: 1983 war noch jede sechste Person (16,7 %) zwischen 15 und 24 Jahre alt. Damals zählten die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge zur Jugend. Heute dagegen ist der demografische Wandel voll sichtbar.
Ohne Zuwanderung sähe es noch düsterer aus: Betrachtet man nur die Bevölkerung ohne Einwanderungsgeschichte, beträgt der Anteil junger Menschen sogar nur 8,6 %. Dagegen sind es unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte 12,0 %, also jede achte Person. Besonders hoch ist der Anteil bei Kindern von Eingewanderten: 20,7 % bei Nachkommen zugewanderter Eltern, 20,0 % bei Menschen mit nur einem zugewanderten Elternteil.
El-Mafaalani: „Wir geben all das an eine Generation weiter, der es gerade nicht gut geht“
Für Aladin El-Mafaalani, Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dortmund, liegt in dieser Entwicklung eine stille, aber folgenschwere gesellschaftliche Schieflage. Im Interview mit ZDFheute warnt er: „Kinder sind in der Minderheit. Eine Minderheit, die nachweislich in ganz vielen Bereichen besorgniserregende Befunde aufweist.“
Er nennt konkrete Beispiele: „Die Bildungsstudien zeigen seit ungefähr zehn Jahren einen negativen Trend. Die Gesundheitsdaten der Kinder und Jugendlichen, besonders hinsichtlich mentaler Gesundheit, haben sich verschlechtert. Das Armutsrisiko ist besonders hoch. Es gibt viele problematische Entwicklungen.“
Dabei wird immer wieder übersehen, dass Kinder nicht nur wenige, sondern auch extrem vielfältig sind. „Kinder sind zahlenmäßig eine kleine Gruppe, die jedoch so vielfältig ist wie keine andere Altersgruppe in Bezug auf die sozialen Verhältnisse, die ökonomischen Verhältnisse, die Pluralisierung der Familien oder auch auf Migration. Kinder haben ganz unterschiedliche Rahmenbedingungen, Bedürfnisse und Interessen“, so El-Mafaalani.
Kleine Zahl – geringe Sichtbarkeit
Aber könnte es nicht auch ein Vorteil sein, dass es weniger Kinder gibt? Wenige müssten doch besser gefördert werden können. El-Mafaalani entgegnet entschieden: „Rein theoretisch könnte man diese Annahme vertreten. Und intuitiv halte ich das auch erstmal für plausibel. Wir messen aber genau das Gegenteil. Unsere These ist, dass Kinder, weil sie eine kleine Gruppe sind, leicht übersehen werden.“
Die Konsequenz sei eine chronische strukturelle Vernachlässigung: „Die Politik macht ihre Prioritäten oft entlang von Mehrheiten. Kinder haben keine Lobby, kein Wahlrecht, und ihre Perspektiven kommen in den gesellschaftlichen Debatten häufig zu kurz.“
Schulen als Lebensorte – nicht nur Lernorte
Im gemeinsam mit Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier verfassten Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“, das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist, fordert El-Mafaalani einen Perspektivwechsel. Schulen müssten endlich als das begriffen werden, was sie längst sind: zentrale Orte von Kindheit und Sozialisation – nicht nur Institutionen zur Wissensvermittlung.
„Schulkinder verbringen heute mehr Zeit in der Institution Schule als mit ihren Eltern. Dort findet, mehr als früher, Kindheit statt. Das bedeutet, dass dort mehr als Wissensvermittlung stattfinden muss: Sport, Musik, Kunst und Kultur, Botanik und vieles mehr. Alles, was in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt, muss erfahrbar sein in den Bildungsinstitutionen“, sagt er.
Gleichzeitig wachse der Druck auf Eltern: „Wenn beide Eltern zunehmend berufstätig sein müssen, weil es ökonomisch nicht reicht, und die Erwerbsquote von Eltern hochgehalten werden muss, weil immer mehr Babyboomer in Rente gehen, dann müssen Bildungsinstitutionen mehr sein als Lernorte. Schulen und Kitas müssen ein Stück weit Familie ersetzen.“
Wer übernimmt die Verantwortung?
Doch wer soll all das leisten – in einem Bildungssystem, das ohnehin am Limit arbeitet? El-Mafaalanis Antwort: die Babyboomer-Generation. Also jene, die in den kommenden Jahren in Rente gehen – zahlreich, gesund und erfahrungsreich.
„Erstens, weil es sehr viele sind. Wenn diese Generation jetzt einfach in den Ruhestand geht und sich nicht mehr engagiert für andere gesellschaftliche Bereiche, dann glaube ich nicht, dass es überhaupt funktionieren kann“, so El-Mafaalani. „Zweitens, weil es die gesündeste, körperlich und kognitiv fitteste Rentnergeneration sein wird, die wir jemals hatten. Die Babyboomer sind nicht so weit weg von den Themen der Jüngeren wie vergangene Seniorengenerationen.“
Er verweist auf Forschungsergebnisse, wonach sich das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln stetig verbessert und intensiviert habe. Und drittens: „Auch die künftige Seniorengeneration steht vor großen Herausforderungen. Dazu gehört Altersarmut. Ich erwarte nicht, dass sich die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner völlig kostenfrei und ehrenamtlich engagieren. Wer sich verlässlich engagiert, soll durchaus honoriert werden.“
Kinder brauchen Lobby – und politischen Willen
Auf die Frage, ob sich daraus eine moralische Verpflichtung der Älteren ableitet, antwortet El-Mafaalani: „Ich würde sagen, es gibt eine Notwendigkeit, aus der sich eine gewisse Verantwortung ableitet. Durch die demografischen Verschiebungen entstehen Lücken. Auskömmliche Renten und ein würdevolles Altern werden große Herausforderungen. Das wird nicht gelingen, wenn Seniorinnen und Senioren sich nicht stärker engagieren.“
Und er fügt mit Nachdruck hinzu: „Wir geben all das an eine Generation weiter, der es gerade nicht gut geht. Vom Klimawandel über weltpolitische Probleme bis hin zu Fragen, wie wir den Staat weiter finanzieren, den Haushalt, die Renten. Das ist kein Vorwurf. Wir müssen uns nur klar darüber sein: Wir hinterlassen ungelöste Probleme – und die Kinder sind es, die damit werden leben müssen.“ News4teachers
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