BERLIN. Die Empörung war programmiert. Mit der Forderung nach einem verpflichtenden sozialen Jahr für Rentnerinnen und Rentner hat Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Dabei geht es um eine Grundsatzfrage: Leben die Alten in Deutschland auf Kosten der Jungen? Großzügige Pensionen einerseits, marode Schulen andererseits, Buchungsrekorde bei Kreuzfahren einerseits, eine fortschreitende Klimakrise andererseits, immer mehr Rentner einerseits, immer weniger Beitragszahler andererseits – legen nahe, dass die Generationengerechtigkeit neu verhandelt werden muss.
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) spricht von Respektlosigkeit: „Die Lebensentscheidung, keine vier Kinder zu bekommen, erfolgte bei Millionen Menschen auch aus finanziellen Gründen“, sagt SoVD-Chefin Michaela Engelmeier. „Ihnen nun daraus einen Strick zu drehen, dass man sich zur Strafe gefälligst im Rentenalter engagieren müsse, empfinden wir als respektlos.“ Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) lehnt den Vorschlag empört ab. „Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, hat seinen Ruhestand unbedingt verdient“, so DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Fratzscher spiele „die Generationen gegeneinander aus“. Die rentenpolitische Sprecherin der Linken, Sarah Vollath, meint: „Gerade bei der Rente geht es nicht um einen Konflikt zwischen Jung und Alt, sondern um eine Klassenfrage. Zwangsdienste lehnen wir grundsätzlich ab.“
„Den Jungen werden Rechte vorenthalten, die zu einem Generationenvertrag gehören“
Doch Fratzscher, der seine Thesen in einem Buch („Nach uns die Zukunft“) ausgebreitet hat, beeindruckt der Gegenwind wenig. Er spricht von „Realitätsverweigerungen“. Seine Analyse: Die Gesellschaft in Deutschland lebt auf Kosten der Jungen. In einem Interview mit dem „Spiegel“ führt er aus: „Junge Menschen haben heute deutlich schlechtere Möglichkeiten auf eine selbstbestimmte Zukunft, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, als das vor 40 Jahren der Fall war. Ihnen werden Rechte vorenthalten, die zu einem Generationenvertrag gehören.“
Seine Diagnose ist umfassend: zu wenig Klimaschutz, zu viel Verschuldung, ein Rentensystem, das die Balance verloren hat. Historisch betrachtet, so Fratzscher, „versorgten in den Sechzigerjahren sechs Beitragszahler eine Rentnerin oder einen Rentner. Bald sind es nur noch zwei. Wieso sollten ausschließlich die Jungen für diese Lebensentscheidungen der Babyboomer geradestehen?“
Er nennt die Rentenpolitik der vergangenen Jahre einen „eklatanten Bruch des Generationenvertrags“. Der Nachhaltigkeitsfaktor, ursprünglich eingeführt, um die Babyboomer an den Folgen der geringen Geburtenzahlen zu beteiligen, sei stillschweigend gestrichen worden: „Jetzt heißt es stattdessen: Sollen die Jungen mal voll dafür aufkommen. […] Das ist ein Bruch nicht nur eines abstrakten Generationenvertrags, sondern eines geltenden Versprechens.“
Die jüngste Rentengarantie, die ein Niveau von 48 Prozent auf Jahre festschreiben soll, verschärfe die Schieflage. Fratzscher: „Das schafft die schlechteste aller Welten. Für die Armen unter den Babyboomern liefert auch ein Rentenniveau von 48 Prozent zu wenig zum Leben, während auch Spitzenverdiener deutlich mehr bekommen. Gleichzeitig drücken die hohen Sozialbeiträge Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit. Sie reduzieren den Wohlstand.“
Sein Fazit ist niederschmetternd: „Wir leben noch in einer Fantasiewelt. Viele wollen nicht wahrhaben, dass wir nicht mehr so weiterleben können wie bisher. Weder wirtschaftlich noch politisch oder gesellschaftlich sind wir auf einem nachhaltigen Pfad. Deutschland steht an einem Wendepunkt. Wegen der Alterung schrumpft Deutschlands Wachstumspotenzial. Rezession wird eher zur Norm werden. Leider handeln Demokratien oft erst, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen.“
„Mich stört an unserer Debatte, dass wir die Lösung unserer Probleme häufig schematisch den Jungen aufbürden“
Seine Lösungsvorschläge: ein „Boomer-Soli“ (Fratzscher: „Der würde fällig auf alle Alterseinkünfte von Senioren, deren Einkommenshöhe zu den obersten 20 Prozent gehört. Es würden also ebenso Beamte und Selbstständige einzahlen, auch Vermögende mit fünf Immobilien. Zugutekäme das den 40 Prozent Rentnern mit den geringsten Einkommen“) – sowie ein soziales Pflichtjahr für Alte. „Mich stört an unserer Debatte, dass wir die Lösung unserer Probleme häufig schematisch den Jungen aufbürden“, sagt Fratzscher. „Wir brauchen eine fairere Verteilung der Lasten. Wir brauchen mehr Solidarität der Alten mit den Jungen. […] Wir sollten ein verpflichtendes soziales Jahr für alle Rentnerinnen und Rentner einführen.“
Darüber hinaus schlägt er vor, die Schuldenbremse umzuwidmen – zugunsten der Bildung. „Sie muss generationengerecht werden. Sie sollte zwischen guten und schlechten Schulden unterscheiden. Ausgaben für Bildung sind meist sehr sinnvolle Schulden. Wenn wir 100 Euro mehr für Lehrer und Schulen ausgeben, bekommen wir langfristig 200 bis 300 Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen zurück. Für solche Schulden sollte es keine Begrenzung geben.“
Der Gedanke, Seniorinnen und Senioren stärker in die Pflicht zu nehmen, ist nicht neu. Schon der Generationenforscher Prof. Klaus Hurrelmann hatte in einem „Spiegel“-Interview für ein gesellschaftliches Pflichtjahr am Ende des Arbeitslebens plädiert. Seine Begründung: Junge Menschen seien heute überfordert – psychisch, ökonomisch, sozial. „Verschiedene Studien zeigen ein hohes Maß an subjektiv empfundener Belastung, an Stress, Angst und eine Zunahme an psychischen Störungen“, erklärte er.
Die Jungen fühlten sich von zwei Seiten in die Zange genommen. „Der Anteil junger Menschen, die im Bildungssystem nicht zurechtkommen und die Schule abbrechen, ist zuletzt stark gestiegen. Der Eintritt in den Arbeitsmarkt verschiebt sich – auch weil so viele Menschen orientierungslos sind und nicht wissen, welcher Beruf der richtige für sie ist. Durch künstliche Intelligenz verändern sich Berufsbilder rasant. Es ist schwieriger geworden, eine Arbeit zu finden, die es auch in zehn Jahren noch sicher geben wird. Viele haben Angst davor, sich ihr Leben auf Dauer nicht leisten zu können. Die steigenden Preise verstärken diesen Effekt“, so Hurrelmann.
Zugleich wachse der Druck durch die Demografie: „Wenn die Babyboomer den Arbeitsmarkt verlassen und von unten deutlich weniger nachkommen, heißt das auch, dass die Jungen unverhältnismäßig viel finanzielle Verantwortung stemmen müssen.“ Darum sei es nicht gerecht, gesellschaftliche Aufgaben einseitig bei der Jugend abzuladen. „Von den Jungen zu erwarten, dass sie im Ernstfall allein das Land verteidigen, ist nicht gerecht“, betonte Hurrelmann mit Blick auf die Wehrpflicht-Debatte. Auch Senioren müssten beitragen – mit Arbeit, mit Zeit, mit Engagement.
„Wenn diese Generation jetzt einfach in den Ruhestand geht und sich nicht mehr engagiert für andere gesellschaftliche Bereiche, dann glaube ich nicht, dass es überhaupt funktionieren kann”
Wie kann das konkret aussehen? Der Dortmunder Soziologe Prof. Aladin El-Mafaalani schlägt vor: Die vielen gesunden, gut ausgebildeten Rentnerinnen und Rentner sollten in Schulen und Kitas mitarbeiten – nicht nebenbei, sondern als systematischer Teil der Bildungslandschaft (News4teachers berichtete). Er verweist auf einen demografischen Befund, der die Dramatik der Lage unterstreicht: Nur noch jeder zehnte Mensch in Deutschland ist zwischen 15 und 24 Jahre alt – so wenige wie nie zuvor. Ohne Zuwanderung läge der Anteil noch niedriger. „Kinder sind in der Minderheit. Eine Minderheit, die nachweislich in ganz vielen Bereichen besorgniserregende Befunde aufweist“, sagt er.
Weil die Politik ihre Prioritäten nach Mehrheiten setze, fehlten Kindern Lobby und Sichtbarkeit. Schulen müssten deshalb als Lebensorte verstanden werden, die weit mehr leisten als reine Wissensvermittlung. „Schulkinder verbringen heute mehr Zeit in der Institution Schule als mit ihren Eltern. […] Alles, was in unserer Gesellschaft eine Rolle spielt, muss erfahrbar sein in den Bildungsinstitutionen“, fordert El-Mafaalani. Und hier sieht er die Babyboomer gefordert: „Wenn diese Generation jetzt einfach in den Ruhestand geht und sich nicht mehr engagiert für andere gesellschaftliche Bereiche, dann glaube ich nicht, dass es überhaupt funktionieren kann.“
Wer kann dafür ein gesellschaftliches Bewusstsein schaffen? Wirtschaftsforscher Fratzscher: „Nur die Boomer selbst. In unserer Demokratie haben die Jungen wenig Sichtbarkeit, sie werden wenig gehört. Zahlenmäßig sind sie hoffnungslos unterlegen. Nur 13 Prozent der Wähler waren bei der Bundestagswahl jünger als 30, aber 60 Prozent über 50 Jahre. Wo haben SPD und Union am stärksten abgeschnitten? Bei den Boomern. Das ist aktuell die Grundlage ihrer Macht.“
Seine Hoffnung – Einsicht: „Wer ist denn die junge Generation? Unsere Kinder und Enkelkinder. Wir müssen den Menschen bewusst machen, wofür das alles nötig ist. Ich glaube nicht, dass Babyboomer wirklich sagen: Ist mir doch egal, ich lebe noch meine 20 Jahre, und die Katastrophen danach gehen mich nichts an. Auch die Babyboomer wollen eine intakte Welt für ihre Urenkel.“ News4teachers