DÜSSELDORF. Frontalunterricht erschöpft Kinder – Bewegung dagegen macht Lernen lebendig. Davon sind der Sport- und Erziehungswissenschaftler Prof. Christian Andrä und der Spieleentwickler Ronald Hild überzeugt. Sie setzen auf Bewegung und Spiel, um Lerninhalte multisensorisch erlebbar zu machen, Wissen nachhaltig zu verankern und intrinsische Motivation zu fördern. Dafür entwickeln sie in ihrem Projekt Creativ-e-motion Sport- und Bewegungsspiele. Ihr Ansatz: Unterricht, der Körper und Geist gleichermaßen aktiviert.
News4teachers: Welche Rahmenbedingungen braucht es aus Ihrer Sicht für gelingendes und sinnvolles Lernen?
Christian Andrä: Zunächst braucht es eine gute Lernatmosphäre – sowohl drinnen als auch draußen, also einen Ort, an dem sich Lernende wohlfühlen. Zudem braucht es jemanden, der weiß, wie man gute Lernprozesse anregen kann: eine Lernbegleitung, die über Vermittlungskompetenz verfügt, die richtigen Impulse setzt, Motivation schafft und die Lernenden dazu anregt, eigene Erfahrungen zu machen und neugierig zu bleiben. Kurz: ein anregendes Lernumfeld.
News4teachers: Was macht für Sie nachhaltiges Lernen aus?
Christian Andrä: Nachhaltiges Lernen bedeutet, dass das, was man lernt, langfristig Bestand hat. Gemeint sind Wissen und Fähigkeiten, auf die man ein Leben lang zurückgreifen kann. Es geht nicht darum, nur für Tests zu lernen, also „Learning for the Test“, sondern darum, Inhalte wirklich zu verstehen, zu verinnerlichen und anwenden zu können – auch in anderen Kontexten. Wissen soll als sinnvoll erlebt werden, als etwas, das man wirklich braucht und im Alltag nutzen kann.
News4teachers: Warum ist nachhaltiges Lernen im Frontalunterricht und im Sitzen schwer möglich?
Christian Andrä: Frontalunterricht ist meist audio-visuell geprägt. Man hört und sieht etwas. Aber Lernen umfasst mehr Sinne: Geruchs- und Geschmackssinn, Kinästhesie, also alles, was mit Bewegung zu tun hat, z. B. Körperhaltung, Berührung und räumliche Orientierung. In Bewegung steckt enorm viel Potenzial. Ich sage oft: „Gebt mir einen Lerninhalt, ich entwickle etwas Bewegtes dazu.“ Denn wissenschaftlich ist belegt, dass multisensorisches Lernen Inhalte verständlicher macht und länger im Gedächtnis verankert.
Das Gehirn arbeitet vernetzt. Wenn ich etwa „Knoblauch“ sage, werden alle verschiedenen Areale aktiv, die mit Knoblauch verknüpft sind. Je mehr Sinneseindrücke zusammenkommen, desto besser wird Wissen gespeichert. Beim Sitzen berauben wir uns dieser Möglichkeiten. Außerdem belastet Sitzen den Körper – auch bei Kindern. Eine bestimmte Fokussierung und das klare Bewusstsein, die für das Lernen gebraucht würde, geht so verloren, denn es fällt vielen Kindern schwer, still zu sitzen. Und wenn man diese Vorgabe macht, dann müssen sich manche Kinder ganz gezielt darauf konzentrieren.
Ronald Hild: Ein Bild dazu: Frontalunterricht ist wie Energie, die auf die Schülerinnen und Schüler einstrahlt. Wenn sie keine Möglichkeit haben, diese Energie durch Bewegung und Handlung umzuwandeln, verpufft sie. Bewegung hilft, Informationen zu verarbeiten und an die richtigen Stellen im Gehirn zu leiten.
Interesse geweckt? Mit dem Thema „Wie Lernen bewegt“ eröffnet Prof. Dr. Christian Andrä am Donnerstag, 25. September 2025, den vierten Tag der Grundschultage Digital – einem neuen Online-Fortbildungsformat für Grundschullehrkräfte. Hier geht es zum vollständigen Programm.
Vier Tage lang, vom 22. bis 25. September 2025, bietet die Veranstaltung jeweils nachmittags und abends ein abwechslungsreiches Programm mit Live-Webinaren zu den Lernwelten MINT, Sprache, Kreativität und Bewegung. Organisiert wird die Reihe in Kooperation mit 4teachers.de, unterstützt von News4teachers als Medienpartner. Ziel ist es, Lehrkräften kompakte, praxisnahe Impulse zu liefern, die sich direkt im Unterricht einsetzen lassen. Hier kostenloses Ticket sichern.
News4teachers: Wie wirkt sich Bewegung auf die kognitive Leistung der Schülerinnen und Schüler aus?
Christian Andrä: Sehr stark. Manche können Still-Sitzen eine Zeit lang kompensieren, aber insgesamt verbessert Bewegung die kognitive Leistungsfähigkeit nachweislich. Man kann dabei nur gewinnen.
News4teachers: Welche Aspekte beinhaltet Ihr pädagogisches Konzept des bewegten Lernens?
Christian Andrä: Wir nutzen Bewegung als Gestaltungsinstrument und Erfahrungsorgan. Über Bewegung können wir Dinge beispielsweise erkennen, begreifen und formen – im wahrsten Sinne des Wortes. Bewegung eröffnet Zugänge zu Lerninhalten, die durch Sitzen versperrt bleiben. Zudem ist wissenschaftlich belegt, dass langes Sitzen den Körper belastet und die Aufnahmefähigkeit mindert. Bewegung wirkt hier wie ein Booster: Lerninhalte werden aktiver aufgenommen, besser verstanden und nachhaltiger verankert.
News4teachers: Welche Rolle spielen Werte in Ihrer Arbeit?
Christian Andrä: Eine gemeinsame Wertebasis ist wichtig für eine gute Lernatmosphäre. Spiele wie die „Wertemonster“ helfen, Werte wie Respekt, Toleranz oder Hilfsbereitschaft gemeinsam zu entwickeln. So werden Regeln verständlicher und von der Gruppe getragen – das stärkt Zusammenhalt und Eigenverantwortung.
Ronald Hild: Wenn Werte in der Gruppe gemeinsam festgelegt werden, steigt die Bereitschaft, sie einzuhalten. So entsteht eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der Lernen und Austausch untereinander leichter fallen.
News4teachers: Wie binden Sie den spielerischen Aspekt in Ihr Konzept ein?
Christian Andrä: Spiel kann verschiedene Formen annehmen: zweckfreies Erkunden mit viel Freiraum und Fantasie oder auch regelgebundene Spiele mit Ziel und Wettbewerb. Beides ist wertvoll: Beim freien Spiel entwickeln Kinder eigene Ideen und Erfahrungen. Beim regelgebundenen Spiel entstehen zusätzliche Anreize, etwa durch Wetteifer oder Kooperation. In beiden Fällen wird Lernen durch Spiel motivierender und lebendiger.
Ronald Hild: Spiele schaffen einen Rahmen, der Bewegung und Lernen strukturiert. Sie erhöhen die Motivation, wecken Freude und binden die Schülerinnen und Schüler emotional ein. So gelingt es, auch Fächer, die als schwierig wahrgenommen werden, wie beispielsweise Mathematik durch erlebtes Lernen spannend und verständlich zu machen.
News4teachers: Welche Komponenten muss ein Spiel enthalten, um im schulischen Kontext eingesetzt werden zu können?
Ronald Hild: Ein Spiel sollte für die ganze Klasse funktionieren, damit Lehrkräfte es leicht einsetzen können. Es muss schnell erklärt und aufgebaut sein, denn Zeit ist im Unterricht knapp. Außerdem sollte es den Fachunterricht sinnvoll unterstützen – also auch inhaltlich einen Mehrwert bieten. Nur wenn Lehrkräfte und Lernende gleichermaßen profitieren, ist ein Spiel ein Gewinn für den Unterricht.
News4teachers: Welche Herausforderungen gibt es bei der Spielentwicklung?
Ronald Hild: Man muss das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler, den Lehrplan und die wesentlichen Lernziele berücksichtigen. Außerdem gilt es, begrenzte Unterrichtszeit und verschiedene Klassengrößen zu bedenken. Spiele sollten flexibel, anpassbar und unterstützend für Lehrkräfte sein.
News4teachers: Welche Inhalte können Spiele besser vermitteln als herkömmlicher Unterricht?
Ronald Hild: Spiele sind besonders gut geeignet, Prozesse, Entwicklungen und Kausalzusammenhänge zu verdeutlichen. Durch eigenes Handeln und Bewegung entstehen Erlebnisse, die das Verständnis vertiefen. So wird Lernen nachhaltiger, weil Inhalte in Kontexten erlebt und eingeordnet werden.
News4teachers: Braucht es auch Ruhephasen beim Lernen mit Bewegung und Spiel?
Christian Andrä: Ja, Rhythmisierung ist wichtig. Bewegung und Spiel sollten mit Phasen traditionellerer Lernformen wechseln. So entsteht Motivation, Abwechslung und Verlässlichkeit. Zudem lernen Klassen mit der Zeit, spielerische Formate selbstständig umzusetzen. Chaos im Klassenraum entsteht meist nur, wenn Methoden ganz neu sind.
Ronald Hild: Solche Formate müssen auch gelernt werden – von der Lehrkraft wie von den Schülerinnen und Schülern. Wenn man regelmäßig Bewegung und Spiel einsetzt, entsteht Routine. Dann bereichern diese Formate den Unterricht, ohne zu überfordern.
News4teachers: In welchen Fächern lassen sich Bewegung und Spiele besonders gut einsetzen?
Christian Andrä: Grundsätzlich in allen. Besonders gewinnbringend sind sie in abstrakten Fächern wie Mathematik oder Naturwissenschaften, weil hier Bewegung und Spiel komplexe Zusammenhänge veranschaulichen. Aber auch einfache Methoden wie Memory, Bingo oder Domino lassen sich in jedem Fach nutzen – man tauscht lediglich die Inhalte aus und passt sie an das jeweilige Unterrichtsfach an.
Ronald Hild: Gerade in Fächern, die als schwierig gelten, können Bewegung und Spiele große Vorteile bringen. Sie machen Lerninhalte anschaulich, erleichtern das Verständnis und fördern die Motivation.
News4teachers: Wie können Kinder und Jugendliche freiwillig lernen, ohne Zwang dabei zu empfinden?
Ronald Hild: Freiwilliges Lernen gelingt vor allem durch intrinsische Motivation. Bewegung und Spiel machen Spaß und fördern genau diese Motivation. Wenn Lehrkräfte ihr Fach mit Leidenschaft vermitteln, steckt das zusätzlich an.
Christian Andrä: Hausaufgaben abzuschaffen wäre ein wichtiger Schritt, um den Zwang zu reduzieren. Kinder sollten lernen wollen, weil sie neugierig sind und nicht, weil sie müssen. Eine authentische, begeisterte Lehrkraft ist dafür entscheidend.
News4teachers: Mit welchen einfachen Methoden lassen sich Bewegung und spielerische Elemente in den Unterricht integrieren?
Christian Andrä: Es gibt viele Möglichkeiten: Schülerinnen und Schüler machen sich groß oder klein je nachdem, ob es sich um ein Substantiv oder ein Verb handelt. Für die Substantive müssen sie sich strecken, für die Verben hinhocken, also klein machen. Wenn man einen Text in einer Fremdsprache zum Beispiel Englisch liest, dann bleiben die Kinder und Jugendlichen auf dem hocken weil fast alles dort klein geschrieben wird. Das vergessen sie so schnell nicht.
Oder sie laufen Zeitstrahlen im Klassenraum ab, bilden mit ihrem Körper geometrische Formen oder ordnen sich räumlich zu Begriffen. Solche Methoden sind einfach, aktivieren den ganzen Körper und bleiben nachhaltig im Gedächtnis.
Ronald Hild: Eine flexible Methode ist, den Klassenraum als Skala zu nutzen – etwa als Zeitstrahl oder Tonleiter. So entstehen visuelle und körperliche Bezüge, die das Lernen unterstützen.
News4teachers: Was wünschen Sie sich für den Unterricht der Zukunft?
Christian Andrä: Mehr individuelle Lernzeiten, weniger starre Taktungen durch den Stundenplan und mehr Freiheit für Kinder, ihre Lernposition selbst zu wählen. Viele Kinder lernen lieber im Sitzen, Liegen oder Gehen durch den Klassenraum. Bewegung und Spiel sollten selbstverständlich dazugehören. Ich würde mir mehr Offenheit diesbezüglich von den Lehrkräften wünschen. Zudem sollte Peer Learning gestärkt und informelles Lernen mehr wertgeschätzt werden.
Ronald Hild: Unterricht sollte weniger auf reines Faktenlernen setzen, sondern stärker auf das Verständnis von Zusammenhängen und Kausalitäten. Informationen sind inzwischen überall verfügbar – entscheidend ist, sie einzuordnen und sinnvoll anzuwenden. News4teachers / Nina Odenius führte das Interview.
Prof. Andrä betreibt den Youtube-Kanal “Bewegte Schule” – hier geht es hin.
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