MAGDEBURG. Fast 40 Jahre stand Birgit Pitschmann als Grundschullehrerin vor ihren Klassen. Dann weigerte sie sich, die von ihrem Arbeitgeber – dem Land Sachsen-Anhalt – verordnete Zusatzstunde zu leisten. Sie verlor deshalb ihre Stelle. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht die Regelung gekippt. Für Pitschmann war das eine Genugtuung, auch wenn sie mittlerweile an einer Privatschule arbeitet. Mehr noch: Im laufenden Berufungsverfahren deutet ein Schreiben des Landesarbeitsgerichts darauf hin, dass sie nicht nur rehabilitiert werden könnte, sondern auch Anspruch auf Wiedergutmachung hat.

Birgit Pitschmann hat fast vier Jahrzehnte lang als Grundschullehrerin in Sachsen-Anhalt gearbeitet. Dann kam eine Stunde mehr. Eine Stunde, die ihr zum Verhängnis werden sollte. Weil die 62-Jährige die vom Land verordnete sogenannte Vorgriffsstunde verweigerte, wurde ihr gekündigt – erst fristlos, dann ordentlich. Heute kämpft sie nicht nur um Rehabilitierung, sondern auch um Entschädigung. Das berichtet der MDR. „Ich möchte eine Entschädigung“, sagt Pitschmann im Interview mit dem Sender. „So, wie mit mir umgegangen wurde, braucht es eine Wiedergutmachung.“
Der Hintergrund: Im Frühjahr 2023 hatte Sachsen-Anhalt die Zusatzstunde eingeführt – offiziell eine „Vorgriffsstunde“, gedacht, um den Lehrkräftemangel abzufedern. Für Grundschullehrkräfte bedeutete das 28 statt bislang 27 Unterrichtsstunden. Wer wollte, konnte sich die Stunde vergüten lassen oder auf einem Arbeitszeitkonto ansparen.
Pitschmann weigerte sich. Schon ohne Zusatzbelastung sei sie an der Grenze gewesen, erklärte sie laut MDR: große Klassen, fehlende Unterstützung bei Kindern mit Behinderungen oder fremdsprachigem Hintergrund. Trotz Personalgesprächs und Abmahnung blieb sie bei ihrer Haltung. Schließlich zog das Land die Reißleine – und kündigte.
Urteil des Arbeitsgerichts: Fristgerechte Kündigung rechtens
Im Sommer 2024 befasste sich das Arbeitsgericht Stendal mit ihrem Fall. Die Richter erklärten die fristlose Kündigung vom September 2023 für unwirksam. Die Begründung: Eine sofortige Entlassung sei „unverhältnismäßig“. Zwar habe Pitschmann ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, doch rechtfertige das keine fristlose Trennung nach fast 40 Jahren im Schuldienst. Anders fiel die Entscheidung allerdings bei der ordentlichen Kündigung aus. Hier folgte das Gericht dem Argument des Landes, dass Pitschmann wiederholt und bewusst ihre Arbeitsverpflichtung verweigert habe. Abmahnungen und Personalgespräch hätten nichts bewirkt, weshalb letztlich die nachgereichte ordentliche Kündigung zum 31. März 2024 zulässig sei. Damit blieb sie ihren Arbeitsplatz los – trotz ihres jahrzehntelangen Engagements als Lehrerin.
Gegen dieses Urteil hat Pitschmann allerdings Berufung eingelegt. Deshalb beschäftigt sich nun das Landesarbeitsgericht Halle mit dem Fall.
Vor Ort in Leipzig: Ein Urteil mit Signalwirkung
Anfang September 2025 stand Birgit Pitschmann im Saal des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig, als die Richter das Ende der Vorgriffsstunde verkündeten. Für sie war es ein bewegender Moment. „Das sei schon eine große Genugtuung gewesen“, sagte sie MDR. Doch während bundesweit Lehrkräfte aufatmeten, blieb für sie die persönliche Niederlage bestehen: Sie war entlassen – und das, obwohl die Pflichtstunde nun als unrechtmäßig gilt.
Die Richter in Leipzig machten in ihrer Entscheidung deutlich, warum sie die Vorgriffsstunde für unrechtmäßig halten. Die Regelung, so führten sie aus, sei rechtswidrig: Die Landesregierung habe ihre Kompetenzen überschritten, insbesondere durch die vorgesehene Auszahlung. Der Hintergrund: Zwar darf die Regierung laut Landesbeamtengesetz die Verteilung der Arbeitszeit regeln. Doch mit der Möglichkeit, die zusätzliche Stunde auszahlen zu lassen, sei sie über diese Befugnis hinausgegangen – denn finanzielle Abgeltungen sind im Beamtendienst nicht ohne Parlamentsgesetz möglich.
Hinzu kam ein weiterer Kritikpunkt: Der vorgesehene Ausgleich galt nur für tatsächlich gehaltene Vorgriffsstunden. Krankheitszeiten sollten nicht angerechnet werden. Das widerspricht nach Ansicht der Richter dem Grundsatz, dass es sich bei der Vorgriffsstunde um echte Dienstzeit handelt – die auch bei Krankheit berücksichtigt werden muss. Damit war die Verordnung gleich in zweifacher Hinsicht rechtswidrig.
Landesarbeitsgericht hat geschrieben: Anwalt sieht „deutlichen Fingerzeig“
Birgit Pitschmanns Rechtsanwalt Marco Slotta aus Stendal verweist auf eine aktuelle Entwicklung: Das Landesarbeitsgericht – wo das Berufungsverfahren läuft – habe das Land schriftlich aufgefordert, die Kündigung zurückzunehmen. „Das Schreiben an das Land ist mehr als ein deutlicher Fingerzeig, wie das Gericht entscheiden wird, wenn vom Land nicht darauf eingegangen wird“, erklärte er gegenüber MDR. Das Land hat demnach nur wenige Tage Zeit, um zu reagieren.
Slotta betont: „Es kann nicht sein, dass eine Lehrerin, die sich Jahrzehnte lang in ihrem Beruf engagiert hat, so abgestraft wird.“
„Ich kann hier wirklich das machen, wofür mein Herz als Lehrerin brennt“ – aber…
Heute arbeitet Birgit Pitschmann im niedersächsischen Grenzgebiet – allerdings nicht mehr im staatlichen Schuldienst, sondern an einer freien Schule. Dort ist sie stellvertretende Schulleiterin, sie beschreibt die Arbeit als „familiär“ und „frei“. „Ich kann hier wirklich das machen, wofür mein Herz als Lehrerin brennt.“ Doch die finanziellen Bedingungen sind schlechter: „Mit wesentlich weniger Gehalt“, wie sie dem MDR sagte.
Trotz der persönlichen Zufriedenheit mit ihrer neuen Stelle bleibt der Blick zurück schmerzhaft. „Für mich ist immer noch diese Motivation: Wie geht man mit einem Menschen um, der wirklich über Jahre, Jahrzehnte gute Arbeit geleistet hat. Und wie man den Wert dieses Menschen so wegkehrt“, so Pitschmann im Gespräch mit dem Sender.
Folgen für Sachsen-Anhalt: Bildungsminister appelliert an Lehrkräfte
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts hat nicht nur für Pitschmann, sondern für das gesamte Land Sachsen-Anhalt Konsequenzen. Bildungsminister Jan Riedel (CDU) appellierte nach der Entscheidung an das Berufsethos der Lehrkräfte, die Stundenpläne nicht ins Wanken zu bringen. Gleichzeitig lässt er allerdings prüfen, ob die Vorgriffsstunde nicht doch in rechtssicherer Form neu eingeführt werden kann.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) begrüßte das Urteil ausdrücklich. „Das Land hat versucht, die überwiegend selbstverschuldete Krise an den Schulen auf Kosten der Lehrkräfte zu bewältigen. Das geht nun nicht mehr so einfach“, erklärte der GEW-Landesvorsitzende Burkhard Naumann.
Während die Landespolitik nach Wegen sucht, den Unterrichtsausfall zu kompensieren, geht es für Birgit Pitschmann um persönliche Gerechtigkeit. „Ich möchte eine Entschädigung“, sagt sie – und macht deutlich, dass für sie der Kampf noch lange nicht vorbei ist. News4teachers
