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“Hunger auf Bildungsdaten”: Politik drängt auf Einführung einer Schüler-ID – Lehrer warnen vor Bürokratiemonster

DÜSSELDORF. Ein digitales Instrument drängt in die Schulen: eine Schüler-Identifikationsnummer, die helfen soll, junge Menschen besser zu fördern – von der Kita bis zur Hochschule. Eine parteiübergreifende Kommission des NRW-Landtags, die sich mit der Zukunft des Bildungssystems beschäftigt, empfiehlt aktuell die Einführung einer solchen digitalen Bildungsakte. Doch Kritiker warnen: Die Schüler-ID könnte mehr Kontrolle als Chancengleichheit bringen. Lehrerverbände warnen vor einem neuen Bürokratiemonster. Und über allem schwebt die Frage: Was genau soll damit überhaupt bezweckt werden?

Datenhungriges Bürokratiemonster. Illustration: Shutterstock

Tron ist zehn Jahre alt und hat Angst vor der nächsten Mathearbeit. Schon in der zweiten Klasse war er beim Rechnen immer der Letzte. Ein Test ergab damals: Verdacht auf Dyskalkulie. Doch seine Grundschule hatte keine sonderpädagogische Fachkraft, keine Zeit, kein Geld. Die Förderung lief aus – und Tron blieb zurück.

In der Zukunft, die sich Politikerinnen und Politiker wünschen, würde so etwas nicht mehr passieren. Schon beim Schuleintritt hätte Tron eine Schüler-ID erhalten – eine digitale Kennung, die seine Lerngeschichte von der Kita bis zur weiterführenden Schule begleitet. Tests, Fördermaßnahmen, Unterstützungsangebote: alles erfasst, anonymisiert, datenschutzkonform. Die Schule könnte rechtzeitig sehen, wo Tron steht – und die passende Hilfe anfordern. Kein Kind mehr soll durchs Raster fallen. So zumindest die Vision.

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Ein digitales Fundament für mehr Chancengleichheit?

In Nordrhein-Westfalen hat eine fraktionsübergreifende Enquetekommission gerade 248 Empfehlungen für mehr Bildungsgerechtigkeit vorgelegt. Eine davon: die Einführung einer Schüler-Identifikationsnummer, die jedes Kind mit der Einschulung oder sogar schon in der Kita erhält. Sie soll den gesamten Bildungsverlauf dokumentieren – vom Sprachtest bis zum Schulabschluss.

„Ideal wäre hier der Einsatz einer Bildungs-ID für jedes Kind“, heißt es in der Empfehlung. Ziel sei eine datengestützte Lernverlaufsdiagnostik, die „gezielte schulische und individuelle Fördermaßnahmen“ ermöglicht. Die Idee: Lehrkräfte sollen mithilfe digitaler Analysen frühzeitig erkennen, wo Lernlücken entstehen, und im Bedarfsfall Psychologen oder Heilpädagogen hinzuziehen können. Eltern sollen „kontinuierlich einbezogen“ werden.

Der Vorschlag knüpft an bundespolitische Pläne an. Schon im Koalitionsvertrag von CDU und SPD findet sich das Ziel einer „datenschutzkonformen, zwischen den Ländern kompatiblen Schüler-ID“. Baden-Württemberg will sie bis 2027/2028 einführen, Niedersachsen bis 2027. Auch auf Bundesebene arbeiten die statistischen Ämter an einem sogenannten Bildungsverlaufsregister.

„Hunger auf Bildungsdaten“ – Schumann warnt vor einem neuen Steuerungsinstrument

Die Bildungsjournalistin Dr. Brigitte Schumann, ehemals Gymnasiallehrerin und Grünen-Abgeordnete im NRW-Landtag, hält die Pläne für hochproblematisch. In ihrem Kommentar „Hunger auf Bildungsdaten“ schreibt sie, das Vorhaben werde „ohne öffentliche Information und Diskussion politisch vorbereitet und vorangetrieben“. Die Schüler-ID sei nur der Einstieg in ein „allumfassendes Datenprogramm“.

Schumann verweist auf Pläne der Kultusministerkonferenz und des Bundes, die eine umfassende datengestützte Steuerung des Bildungssystems anstreben. Das Ziel: Ein Register, das Bildungs- und Lernverläufe für Politik, Verwaltung und Wissenschaft auswertbar macht. Befürworter argumentieren, Deutschland brauche endlich Längsschnittdaten, um gezielt fördern zu können – nach kanadischem Vorbild.

Doch Schumann warnt: Deutschland sei nicht Kanada. Das deutsche Schulsystem sei hochselektiv, sortiere nach Leistung und Herkunft, statt zu fördern. „Solange Bildungspolitik an der frühen Selektion festhält“, schreibt sie, „werden individuelle Bildungs- und Lernverlaufsdaten zum Mittel für ‚passgenaues Sortieren‘.“ Die Schüler-ID drohe, zum Werkzeug der Kontrolle zu werden – nicht der Gerechtigkeit.

Hinzu komme, dass Datenschutzbeauftragte bereits „hohe Hürden der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit“ sehen. Eine jahrzehntelange Speicherung von Bildungsbiografien könne die Grundrechte verletzen. Schumann sieht darin ein Beispiel für die fortschreitende Datafizierung der Bildung – Schulen würden zu „Datenfabriken“, Kinder zu Objekten der Vermessung.

Bundeselternrat: „Kinder sind keine Datensätze“

Auch Elternverbände schlagen Alarm. Der Bundeselternrat fordert in einer aktuellen Stellungnahme eine „klare Kante bei Datenschutz und Mitsprache“. Eine Schüler-ID greife tief ins Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung Minderjähriger ein. Die Sorge: Es könnten umfangreiche Datenprofile entstehen, die weit über schulische Zwecke hinausgehen.

„Es geht hier nicht nur um Technik, sondern um Vertrauen – und das ist in der Bildung nicht verhandelbar“, erklärt der Vorstand. Nur wirklich notwendige Daten dürften erhoben werden, ausschließlich zum Wohl der Kinder. Kommerzielle Nutzung müsse tabu sein. Außerdem brauche es Transparenz darüber, wer wann auf welche Daten zugreift.

Der Elternrat kritisiert zudem, dass die Schüler-ID bislang mehr Bürokratie als Entlastung verspreche. Lehrkräfte ächzten schon jetzt unter Reformlast. „Digitalisierung muss vom Klassenzimmer her gedacht werden – nicht vom Ministerium“, heißt es. Und: Die Politik solle sich selbst messen lassen. Solange Daten nur über Schüler, nicht aber über Schulbedingungen erhoben werden, bleibe das System unfair.

Am Ende stehe die Frage nach dem Sinn: „Das Problem im Bildungssystem sind nicht fehlende Daten, sondern Personalmangel, Überlastung, schlechte Ausstattung und ungleiche Chancen.“ Eine Schüler-ID ändere daran nichts.

Lehrerverbände: „Ein bürokratisches Monster“

Auch die Lehrkräfte reagieren skeptisch. Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, hält die Schüler-ID zwar grundsätzlich für eine interessante Idee – allerdings nicht für die Schulen selbst. „Das ist eher eine Grundlage für politische Entscheidungen“, sagt er gegenüber dem SWR. Für den Unterricht bringe die ID keinen Mehrwert, wohl aber zusätzlichen Aufwand und hohe Kosten.

Er befürchtet ein „bürokratisches Monster“, das Lehrkräfte mit Dateneingaben belastet, statt sie zu entlasten. Schon heute stünden Pädagoginnen und Pädagogen unter dem Druck, immer neue Tests und Screenings auszufüllen.

Die GEW wiederum kritisiert dem Bericht zufolge, die Politik setze die falschen Prioritäten: „Wir haben in den letzten Jahren eine Menge Daten gesammelt – und wir sehen nicht den Erfolg“, sagt Anja Bensinger-Stolze. Was fehle, seien Lehrer, nicht Zahlen. „Wie setzen wir das eigentlich im Unterricht um?“ Auch Datenschützer warnen vor einer unkontrollierbaren Datensammlung. „Je nachdem, wer sie wie verwendet, kann daraus eine Datensammlung entstehen, die wir nie wieder eingefangen kriegen“, so Frank Spaeing von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz.

Bildungsforscher Dohmen: „Interessant, aber zu spät und zu viel Fokus auf Daten“
Dieter Dohmen, Leiter des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie, sieht die Idee einer Schüler-ID differenzierter. Für die Bildungsforschung sei sie spannend – aber nur langfristig. „Selbst wenn wir eine Schüler-ID hätten, braucht es etliche Jahre, bevor wir sie auswerten können“, sagt er gegenüber dem SWR. „Für die Bildungsreformen, die im Moment anstehen, ist das viel zu spät.“

Seine Prognose: Erst zwischen 2035 und 2040 könnten belastbare Erkenntnisse vorliegen. Und bis dahin? „Das Wissen ist längst da – es wird nur nicht umgesetzt.“ Außerdem könne eine ID nur messen, was messbar sei. „Das Schulklima, das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schülern – das lässt sich kaum in Daten fassen.“

Dohmen warnt vor einem Datenfetischismus, der politisches Handeln ersetzt. „Um das Bildungssystem besser zu machen, brauchen wir nicht mehr Daten, sondern Mut, sie endlich zu nutzen.“ News4teachers 

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