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Hattie rechnet mit dem Individualisierungs-Hype in der Bildung ab: „Das größte Problem liegt in der Überbetonung des Alleinarbeitens“

BERLIN. Viel Eigenverantwortung, wenig Wirkung: Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie stellt die großen Versprechen des digital befeuerten individualisierten Lernens infrage. Mit Blick auf selbstgesteuerte Lernformen warnt er: Forschungsergebnisse zeigen kaum messbare Fortschritte. Stattdessen plädiert Hattie für ein „maßgeschneidertes Lernen“, das auf professioneller Diagnostik, hohen Erwartungen und gemeinschaftlichem Lernen basiert. Das kann durchaus als Kritik am deutschen Schulsystem verstanden werden.

Was darf’s sein? Illustration: Shutterstock

Die Bildungspolitik setzt, angetrieben auch von den Möglichkeiten der Digitalisierung, zunehmend auf individualisiertes, selbstgesteuertes oder personalisiertes Lernen – in der Hoffnung, jedem Kind damit bestmögliche Lernchancen zu eröffnen. Doch der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie, Professor an der University of Melbourne und Autor der richtungweisenden Meta-Studie „Visible Learning“ (dt.: „Lernen sichtbar machen“), warnt: Zu viel Eigensteuerung kann das Lernen eher bremsen als beflügeln.

Auf der Konferenz Bildung Digitalisierung 2025 in Berlin plädierte er für ein „maßgeschneidertes Lernen“, das auf professioneller Diagnostik und gemeinschaftlichem Lernen basiert. Das Deutsche Schulportal dokumentiert nun seine Keynote.

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„Das Versprechen der Individualisierung ist größtenteils rhetorisch“

Hattie spricht darin von einem „Schulsystem, das durchdrungen ist von Schlagwörtern und Modebegriffen“. Begriffe wie „individualisiertes“, „personalisiertes“ oder „selbstgesteuertes Lernen“ seien allgegenwärtig – in Konferenzdebatten, bildungspolitischen Papieren und den sozialen Medien. Doch obwohl diese Konzepte ähnlich klängen, bezeichneten sie unterschiedliche Dinge.

Beim individualisierten Lernen, so Hattie, gehe es darum, dass Lehrkräfte Aufgaben an das Leistungsniveau einzelner Schüler anpassen. Beim personalisierten oder selbstgesteuerten Lernen dagegen setzten die Lernenden ihre Ziele selbst, wählten Materialien und bestimmten die Art der Leistungsnachweise. Diese Ansätze beruhten auf der charmanten Idee, dass jedes Kind am besten auf seine eigene Weise lerne. „Diese Idee ist intuitiv attraktiv“, sagt Hattie, „aber wir müssen uns einer unbequemen Wahrheit stellen: Es gibt nur wenig belastbare Forschung, die zeigt, dass solche Formen des Lernens großflächige Lerngewinne bringen.“

Seine Datenlage ist eindeutig: Die Effektstärken – also der statistische Grad, mit dem ein pädagogischer Ansatz Lernerfolge beeinflusst – liegen laut Hattie im Durchschnitt bei 0,03 für schülergesteuertes Lernen und 0,26 für individualisiertes Lernen – also deutlich unter der Schwelle von 0,4, die er als Grenze für eine „bedeutsame Wirksamkeit“ definiert.

„Kurz gesagt“, so Hattie, „der Hype um individualisiertes und personalisiertes Lernen übersteigt die Stärke der Forschungsergebnisse bei Weitem. Das Versprechen der Individualisierung ist größtenteils rhetorisch.“

„Das größte Problem liegt in der Überbetonung des Alleinarbeitens“

Der Forscher kritisiert, dass sich viele Schulen in einem Missverständnis von Autonomie verfangen hätten. „Richtig umgesetzt kann personalisiertes Lernen ein Gefühl von Eigenverantwortung und Motivation fördern“, erklärt Hattie. „Schlecht umgesetzt jedoch verkommt es oft zu einer Orientierung an oberflächlichen Auswahlmöglichkeiten – etwa dazu, Unterricht an sogenannte Lernstile anzupassen.“ Studien, die diese Lernstile zugrunde legen, hätten eine Effektstärke nahe null.

Seine zentrale Kritik: „Das größte Problem von individualisiertem und personalisiertem Lernen liegt in der Überbetonung des Alleinarbeitens.“ Der Kern schulischen Lernens sei seit jeher Zusammenarbeit und soziales Lernen. Wer Lernen auf individuelle Lernpfade und Eigensteuerung reduziere, beraube Kinder jener gemeinschaftlichen Erfahrung, die Lernen erst tiefgreifend mache. „Viele Lernende brauchen Struktur, Anleitung und ein gemeinsames Ziel“, so Hattie. „Wenn Schülerinnen und Schüler nur individuell lernen, laufen sie Gefahr, zu isolierten ‚Einzellernenden‘ zu werden.“

„Schüler wissen oft nicht, was sie nicht wissen“

Hattie stellt klar, dass Lernen nicht darin bestehe, ausschließlich das zu tun, was einem liegt oder gefällt. „Lernen lebt von Herausforderung, Feedback und gemeinsamem Verstehen“, sagte er. „Übermäßig individualisiertes Lernen senkt die kognitiven Anforderungen. Denn wenn Schüler selbst entscheiden dürfen, wählen sie oft Aufgaben, die sie schon können.“

Darin liegt für Hattie ein Kernproblem des aktuellen Bildungstrends: „Schüler wissen oft nicht, was sie nicht wissen. Genau deshalb gibt es Lehrkräfte: um ihnen das beizubringen, was sie noch nicht wissen.“

Auch die Differenzierung im Unterricht werde häufig falsch verstanden. Gute Differenzierung, so Hattie, bedeute nicht, dass jede Schülerin und jeder Schüler andere Aufgaben bekommt. „Lehrkräfte mit hohen Erwartungen differenzieren nicht innerhalb ihrer Erwartungen, sondern beim Weg und beim Tempo, um sie zu erreichen.“ Lehrerinnen und Lehrer mit niedrigen Erwartungen dagegen „differenzieren“ durchaus – aber auf eine Weise, die das Potenzial ihrer Schüler begrenze. „Und das“, so Hattie, „kann verheerende Auswirkungen haben.“

Bildungsgerechtigkeit – nicht jeder seinen eigenen Lernpfad

Ein weiteres Risiko sieht Hattie darin, Personalisierung mit Bildungsgerechtigkeit zu verwechseln. „Bildungsgerechtigkeit bedeutet nicht, jedem Kind seinen eigenen Lernpfad zu geben“, erklärte er, „sondern sicherzustellen, dass jedes Kind mindestens ein Jahr Lernfortschritt pro Schuljahr erzielt.“

Gilt als „Harry Potter der empirischen Bildungsforschung“: John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne. Foto: idunius / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Personalisierte Ansätze könnten sogar Ungleichheiten verstärken, wenn sie falsch verstanden würden. „Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Haushalten landen oft in individualisierten Lernpfaden, die ihnen nur begrenzten Zugang zu hochwertigen Unterrichtsgesprächen bieten“, warnte Hattie. „Sie arbeiten dann allein an Arbeitsblättern, ohne Gelegenheit zu tiefem Denken oder Transfer.“ Echte Gerechtigkeit heiße, „allen Lernenden anspruchsvolle Aufgaben zu geben – unabhängig von ihrer Herkunft.“

Diese Aussagen lassen sich durchaus als grundsätzliche Kritik am deutschen Schulsystem lesen. In einem Interview mit dem Spiegel im vergangenen Dezember hatte Hattie bereits deutlich gemacht, dass er die frühzeitige Aufteilung von Kindern in verschiedene Schulformen für einen gravierenden Fehler hält (News4teachers berichtete).

„Ich kann nicht verstehen, wie man so viel Talent vergeuden kann“, sagte er damals. Das System der frühen Trennung beruhe auf der irrigen Annahme, homogene Klassen erleichterten das Lernen. „Diese frühzeitige Trennung ist nicht im Interesse der Schülerinnen und Schüler. Einige Kinder brauchen eine zweite, dritte oder vierte Chance, um Dinge besser zu verstehen – und zwar über die Grundschulzeit hinaus.“

Er bezeichnete das deutsche System als „das ungerechteste Schulsystem, das ich kenne“. In keinem anderen Land werde so deutlich zwischen „Gymnasiasten“ und „den anderen“ unterschieden. „Ich möchte doch, dass mein Handwerker eine ebenso exzellente Schulbildung genossen hat wie mein Arzt“, sagte Hattie.

Auf die Frage, ob er das Gymnasium abschaffen wolle, antwortete er: „Viele Eltern wollen das nicht, aber die Schule ist nicht für die Eltern da, sondern für die Kinder. Sie werden die Zukunft Deutschlands prägen.“ Deutschland werde „niemals an die Spitze der PISA-Charts kommen“, wenn es nicht den Mut habe, „auf eine Änderung des Schulsystems zu drängen“.

Diese Kritik fügt sich nahtlos in seine Berliner Keynote ein: Wenn Individualisierung zum Selbstzweck werde, führe sie zu Trennung statt zu Teilhabe – und damit zu demselben Problem, das Hattie im gegliederten Schulsystem erkennt: Bildung werde zur Frage der Herkunft.

„Maßgeschneidertes Lernen“ als Alternative

Als Ausweg aus dieser Sackgasse schlägt Hattie nun das „maßgeschneiderte Lernen“ vor – ein Konzept, das er bewusst von den Modebegriffen der Bildungsdebatte abgrenzt. „Maßgeschneidertes Lernen bedeutet nicht, jedem Kind ein eigenes Curriculum zu geben“, sagt er. „Es bedeutet, dass Lehrkräfte ihren Unterricht basierend auf dem Lernfortschritt jedes Schülers gezielt anpassen.“

Dazu gehöre, Lernstände zu diagnostizieren, Feedback zu geben und Aufgaben so zu gestalten, dass sie alle Schülerinnen und Schüler angemessen fordern. „Das verlangt von Lehrkräften professionelle Expertise“, betont Hattie. „Die Klarheit einer Lehrkraft hat mehr als doppelt so starken Einfluss auf Lernergebnisse wie eine oberflächliche Personalisierung.“

Zugleich müsse Lernen gemeinschaftlich bleiben. „Schüler lernen in erheblichem Maße voneinander – im Guten wie im Schlechten“, sagte er. „Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass sie auf die richtige Weise voneinander lernen.“

Hattie fasst zusammen: „Natürlich müssen Schülerinnen und Schüler lernen, Verantwortung zu übernehmen und sowohl eigenständig zu arbeiten wie auch mit anderen. Aber es gibt eine richtige Zeit für Schülerautonomie – und eine falsche Zeit dafür.“ News4teachers 

“Es gibt Lehrpersonen und Schulstrukturen, denen es nicht schaden würde, sich von Hattie aufrütteln zu lassen”

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