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Paradigmenwechsel im Schulbau: Warum der Klassenraum, den wir kennen, ausgedient hat

MAINZ. Noch immer sieht der klassische Schulbau so aus wie vor hundert Jahren: ein langer Flur, rechts und links die Klassenräume – Orte, die für Frontalunterricht konzipiert sind und in denen Schülerinnen und Schüler vor allem stillsitzen sollen. Doch diese Architektur passt längst nicht mehr zu den pädagogischen Zielen einer modernen Schule, die auf selbstständiges, kooperatives und individualisiertes Lernen setzt. Timo Schlosser, Referent und Berater für pädagogischen Schulbau am Pädagogischen Landesinstitut Rheinland-Pfalz, erklärt in seinem Gastbeitrag, warum der Klassenraum in seiner herkömmlichen Form ausgedient hat – und wie neue Raumkonzepte Schulen zu lebendigen Lernlandschaften machen können, die den Bedürfnissen von Kindern, Lehrkräften und Gemeinschaft gerecht werden.

Leseburg im Klassenzimmer. Foto: Timo Schlosser

Ein langer Flur und rechts und links die Klassenräume. Dieser Aufbau von Schulgebäuden hat allen technischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Veränderungen getrotzt. Doch ist diese traditionelle Struktur in Zeiten von immer größerer Heterogenität der Lerngruppen, von Inklusion und dem Wunsch nach mehr individualisiertem Lernen noch sinnvoll? Hat der Klassenraum ausgedient? Und was kommt stattdessen?

Viele Eltern kennen dieses Gefühl am Elternabend. „Hier sieht es ja immer noch aus wie zu meiner Schulzeit“ ist ein Satz, den man häufig hört. In seiner Grundstruktur hat sich der Klassenraum seit dem Entstehen des öffentlichen Schulwesens im 19. Jahrhundert kaum verändert. Damals wurde ein Aufbau für die Schulräume gewählt, der den Erziehungszielen dieser Zeit entsprochen hat. Kinder sollten in der Welt der beginnenden Industrialisierung funktionieren und zu Untertanen erzogen werden. Ein naheliegendes Modell wurde im Aufbau der christlichen Kirche gefunden. Die Tafel als Triptychon, das Pult als Altar und die Kinder in Bänken rechts und links vom Mittelgang. Doch die Bildungsziele sind heute andere als zu jener Zeit.

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Ziel ist es heute, die Schülerinnen und Schüler zu toleranten und verantwortungsvollen Demokratinnen und Demokraten zu erziehen. Nur dann können sie die Kompetenzen entwickeln, die ihnen helfen, eine offene Zukunft selbstwirksam mitzugestalten. Doch die Struktur des Klassenraums hat sich an vielen Schulen nicht verändert. Dass dies zu Problemen führt, spürt nahezu jede Lehrkraft im schulischen Alltag. Ein traditioneller Klassenraum wurde für den Frontalunterricht eingerichtet und diese Funktion erfüllt er sehr gut. Doch soll beispielsweise im Fremdsprachenunterricht ein Dialog in Dreiergruppen eingeübt werden, stößt man schnell an die Grenzen des Klassenraums. Sobald mehrere Gruppen ins Gespräch kommen, versteht kaum jemand mehr sein eigenes Wort. Häufig wird dann in den Flur oder das Treppenhaus ausgewichen, doch sobald der erste Kollege wütend „Seid ruhig, wir schreiben eine Mathearbeit“ in den Flur ruft, ist ein Konflikt programmiert.

Zu Hause ist es selbstverständlich, dass wir Räume entsprechend ihrer Funktion gestalten. Ein Raum, in dem wir schlafen, ist ganz anders beschaffen als ein Raum, in dem wir kochen. Doch in der Schule muss ein Klassenraum den Platz für ganz unterschiedliche Aktivitäten bieten: Egal ob fokussierte Stillarbeit, Gruppendiskussionen, Präsentieren oder der Morgenkreis, hier findet alles statt; und in unterschiedlichem Lerntempo und immer stärker individualisiertem Lernen vielfach auch alles gleichzeitig. Die aktuelle Rheinland-Pfälzische Schulbaurichtlinie ermöglicht es den Schulträgern und Schulen bei der Planung  von Schulgebäuden, diese Orientierung an der Funktion und an den in den Räumen stattfindenden Aktivtäten umzusetzen.

Klassenraum mit Zonierung. Foto: Timo Schlosser

Um dieser Veränderung Rechnung zu tragen, wird gerade an Grundschulen immer häufiger die Idee des Churer Modells umgesetzt. Verschiede Zonen im Klassenraum sollen unterschiedlichen Aktivitäten Raum geben. Ein fester Sitzkreis, eine abgeteilte gemütliche Leseecke, ein Gruppentisch und Schreibtische für fokussierte Einzelarbeit. Leider scheitert diese grundsätzlich sehr gute Idee oft daran, dass diese Aktivitäten mit sehr unterschiedlichen Lautstärken einhergehen. Konzentriert an einem Arbeitsblatt zu arbeiten, fällt schwer, wenn hinter mir eine lebhafte Gruppendiskussion geführt wird. Was es wirklich braucht, ist ein Paradigmenwechsel, der die Ideen des Churer Modells auf das gesamte Gebäude überträgt. Statt Räumen Gruppen zu zuordnen („der Klassenraum der 7b“) gilt es, die Räume so zu gestalten, dass sie optimale Bedingungen für spezifische Aktivitäten bieten („der Raum für Gruppenarbeit“).

Bei der Definition der funktionalen Räume hilft ein Blick auf die typischen Aktivitätengruppen und Lernsituationen im schulischen Alltag.

Ankommen:

Die zentralen Bedürfnisse beim Ankommen in einem Gebäude sind, sich willkommen zu fühlen und den eigenen Platz zu finden sowie sein Gepäck abzustellen und die Regenjacke loszuwerden. Eine große Hotellobby mit Rezeption und Gepäckwagen zeigt gut, wie auf diese Bedürfnisse eingegangen werden kann. Beim Betreten von Schulen hingegen fällt man häufig in einen Flur oder ein Treppenhaus. Und gerade, wenn aus Brandschutzgründen keine Garderoben in den Fluren möglich sind, können herumliegende Rucksäcke und Jacken ein Problem darstellen.

Zusammenkommen:

In größeren Gruppen zusammenzukommen, sei es im Morgenkreis oder in einer Schülerversammlung, ist für viele Schulen ein zentraler Punkt in ihrem Schulkonzept und Basis für die Demokratieerziehung.

Präsentieren:

Wenn eine Lehrkraft in ein neues Thema einführt oder eine Gruppe Lernender das Ergebnis einer Projektarbeit präsentiert, ist es wichtig, dass man die Präsentierenden gut sehen und hören kann und dass es eine Projektionsmöglichkeit mit Lautsprechern gibt.

Vertrauen:

Schulen sind sehr emotionale Orte. Schwierige Elterngespräche, Schulsozialarbeit und Lerncoachings brauchen Räume, in denen es möglich ist, dass Vertrauen entsteht, in denen geweint werden darf und kann. Doch gleichzeitig ist im Sinne der Schutzkonzepte der Schulen auch immer eine grundsätzliche Einsehbarkeit wichtig.

Interagieren:

Kaum eine Kompetenz wird von Arbeitgebern heute mehr gefordert als Teamfähigkeit. Das Arbeiten in kleinen Gruppen von drei bis acht Personen unterstützt nicht nur das Lernen von- und miteinander, sondern baut ganz nebenbei die Basiskompetenz Teamfähigkeit auf. Dafür braucht es Räume mit Besprechungstisch, Whiteboard und Moderationsmaterialen, die zum Dialog und zur Diskussion anregen. Auch können diese Räume mal von einer Gruppe Lernender genutzt werden, die einen Podcast vorbereiten, und dann für ein Jahrgangsteam, das eine neue Lernreise plant. Die Bedürfnisse an den Raum sind die gleichen.

Fokussieren:

In einen Flow-Zustand zu fallen, wenn man hochkonzentriert alleine an etwas arbeitet, ermöglicht ein nachhaltiges Verstehen und Lernen. Der Fokus liegt auf dem „magischen Quadratmeter“ direkt vor mir, den ich mit meinen Armen erreichen kann. Früher war dort die Schiefertafel, heute das iPad und vielleicht drehen wir dort in zehn Jahren interaktive Hologramme. Doch das Grundbedürfnis an diesen Raum bleibt das gleiche: Stille, eine entspannte Körperhaltung und wenig Ablenkung.

Rückzug:

In kaum einem Gebäude sind so viele Menschen auf so wenig Raum, wie dies in Schulen der Fall ist. Im Schulflur zu Beginn der großen Pause geht es hektischer zu als im Frankfurter Hauptbahnhof am Freitagnachmittag. Daher ist der meistgenannte Wunsch sowohl von Lehrkräften wie von Lernenden die Möglichkeit, sich kurz zurückziehen zu können, um Kopf und Ohren wieder freizubekommen. Auch hier ist die Balance zwischen Abschottung und Einsehbarkeit wichtig, um der Aufsichtspflicht gerecht werden zu können.

Wenn man mit diesem veränderten Blick auf die Nutzung der Räume eines Schulgebäudes schaut, wird schnell klar, dass es hier um mehr geht als ein Auswechseln der Türschilder. Der „Dreiklang des Stundenplans“ (Lerngruppe, Lehrkraft, Raum) funktioniert nicht länger. Individualisiertes Lernen im eigenen Tempo wird möglich, doch gleichzeitig müssen die Schulorganisation und auch die Zeitstrukturen überdacht werden. Schulbau ist quasi „Schulentwicklung im Schleudergang“. News4teachers 

Der zweite Teil des Gastbeitrags erscheint morgen auf News4teachers. 

Hier geht es zu allen Beiträgen des Themenmonats “Schulbau & Schulausstattung”. 

Und noch ein Rekord… Das neue Redaktionskonzept von News4teachers zieht!

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