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Sinti und Roma: Ein KMK-Papier – und die grausame Geschichte dahinter

BERLIN. Ein Papier mit Symbolkraft, aber wenig Verbindlichkeit: Die Kultusministerkonferenz (KMK) will die Geschichte der nationalen Minderheiten stärker im Unterricht verankern. Für Sinti und Roma ist das, immerhin, ein Schritt in Richtung Anerkennung, die jahrhundertelang verweigert wurde. Selbst die Verfolgung im NS-Deutschland wurde lange missachtet.

Das Roma-Mädchen Johanna Schmidt wurde Berichten zufolge 1943 vom KZ-Arzt Josef Mengele bei seinen Menschenversuchen ermordet. Bildquelle unbekannt.

Mit einem Beschluss, der auf den ersten Blick unspektakulär wirkt, hat die Kultusministerkonferenz Neuland betreten: Erstmals sollen die vier autochthonen nationalen Minderheiten Deutschlands – die dänische Minderheit, die Lausitzer Sorben, die friesische Volksgruppe und die deutschen Sinti und Roma – verbindlich Thema im Unterricht werden. Auf einer Fachtagung unlängst in Berlin stellten Bildungsministerinnen und Vertreter der Minderheitenräte vor, wie das praktisch aussehen könnte.

„Die Vielfalt ist ein Schatz, den wir sehr viel sichtbarer machen müssen“, sagte KMK-Präsidentin Simone Oldenburg (SPD). Auch Gitte Hougaard-Werner, Vorsitzende des Minderheitenrates der vier autochthonen Volksgruppen, betonte die Bedeutung der schulischen Wissensvermittlung: Es sei „ein wichtiges Anliegen, ein selbstverständlicher Teil schulischer und außerschulischer Bildung in ganz Deutschland zu werden“.

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Doch so sehr die Fachtagung als Zeichen von Wertschätzung verkauft wurde – der Beschluss bleibt bislang ein Papier ohne konkrete Verpflichtungen. Lehrpläne sollen „weiterentwickelt oder neu geschaffen“ werden, heißt es in dem KMK-Text. Verbindliche Vorgaben oder bundesweite Programme gibt es nicht. Immerhin: Dass die Kultusministerinnen und Kultusminister überhaupt über die Sinti und Roma sprechen, ist keineswegs selbstverständlich – angesichts einer Geschichte, die von Verfolgung, Gewalt und systematischer Ausgrenzung geprägt ist.

Von Anfang an Außenseiter – weil sie anders waren

Seit über 600 Jahren leben Sinti und Roma in Deutschland. Die erste Erwähnung stammt aus dem Jahr 1407 in Hildesheim. Von Beginn an begegnete ihnen die Mehrheitsgesellschaft mit Misstrauen und Feindseligkeit – nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Lebensweise.

Sie waren fremd in Sprache, Kleidung und Religion, vor allem aber nicht sesshaft. In einer Welt, in der jeder Mensch einer Grundherrschaft, einem Zunftverband oder einer Kirchengemeinde angehören musste, galt Mobilität als verdächtig. Wer sich der Kontrolle entzog, wurde schnell zum Außenseiter. Viele Sinti und Roma zogen als wandernde Handwerker, Musiker oder Händler durch Europa – und lebten damit außerhalb der ständischen Ordnung.

Hinzu kam religiöse Stigmatisierung: Geistliche Schriften bezeichneten sie als „Athinganoi“, also „Unberührbare“, und dichteten ihnen „heidnische“ oder „magische“ Praktiken an. So verschmolzen Misstrauen, religiöser Fanatismus und soziale Kontrolle zu einem Feindbild, das Jahrhunderte überdauerte. Auf dem Reichstag zu Freiburg 1498 wurden Angehörige dieser Minderheit schließlich für „vogelfrei“ erklärt – wer einen von ihnen tötete, musste keine Strafe fürchten. Es war der Beginn einer Politik, die aus kultureller Fremdheit staatlich sanktionierte Verfolgung machte – und deren Spuren sich bis in die Neuzeit ziehen.

Der Holocaust – „restlose Abschaffung“ als Plan

Im 20. Jahrhundert kulminierte diese jahrhundertelange Ausgrenzung in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Bereits 1926 hatte Bayern ein Gesetz gegen vermeintlich „arbeitsscheue“ und „asoziale“ Sinti und Roma erlassen – ein Vorläufer der NS-Rassenpolitik. Nach 1933 wurde daraus ein Instrument des Terrors. 1936 begann die Erfassung durch die „Rassenhygienische Forschungsstelle“, die 24.000 „Rassegutachten“ anlegte – bürokratische Vorarbeit für den Massenmord. 1941 notierte der Leiter der Münchner Kriminalpolizei bereits die „restlose Abschaffung“ der Minderheit – eine zynische Umschreibung für Vernichtung.

Ab 1942 folgten Deportationen nach Auschwitz-Birkenau. Im einem eigenen Lagerbereich, bestehend aus 30 Baracken, waren Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht. Hunger, Krankheiten und Misshandlungen waren allgegenwärtig. Ab 1943 begannen SS-Ärzte um Josef Mengele mit medizinischen Experimenten, darunter tödliche Zwillingsversuche an Kindern. Im Sommer 1944 wurde das Lager aufgelöst. Etwa 2.900 Menschen – Kinder, Mütter, Alte – wurden in einer Nacht in die Gaskammern getrieben und ermordet. Insgesamt wurden in Europa zwischen 220.000 und 500.000 Sinti und Roma Opfer des nationalsozialistischen Völkermords. Allein in Deutschland und Österreich fielen rund 25.000 Angehörige der Minderheit der Vernichtung zum Opfer.

Romanes kennt für den Holocaust ein eigenes Wort: Porajmos, deutsch: „das Verschlingen“.

Nach 1945: Täter blieben im Amt

Nach Kriegsende wurde der Genozid nicht anerkannt – im Gegenteil. Viele der Täter arbeiteten weiter in Polizei und Verwaltung. In München existierte ab 1946 erneut eine „Dienststelle für Z-Fragen“, die mit denselben Beamten besetzt war, die zuvor Deportationen organisiert hatten. Opfer wurden zu Tätern erklärt: Gerichte sprachen ihnen Entschädigungen ab, weil sie angeblich „wegen Kriminalität“ verfolgt worden seien. Der Bundesgerichtshof formulierte 1956 in einem Urteil, die Minderheit neige „zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien“. Erst 1970 wurde die bayerische „Landfahrerordnung“ wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben – fast 25 Jahre nach Ende der NS-Diktatur.

1982: Die späte Anerkennung des Völkermords

Es dauerte bis 1982, ehe die Bundesrepublik Deutschland den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma offiziell anerkannte. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt empfing eine Delegation des neugegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma unter Leitung von Romani Rose und erklärte: „Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermordes erfüllt.“ Diese Erklärung war ein historischer Bruch. Zum ersten Mal wurden Sinti und Roma in Deutschland als Opfer des Holocausts anerkannt – nach jahrzehntelangem Leugnen und Ignorieren.

Romani Rose erinnerte sich 40 Jahre später: „Die damalige Anerkennung des Völkermords durch Bundeskanzler Schmidt schaffte die notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Bürgerrechtsarbeit der vergangenen 40 Jahre.“

1984: Alte Denkmuster vor Gericht

Doch selbst nach der Anerkennung blieb die Diskriminierung Realität. Noch 1984 behauptete der damalige Regierungspräsident von Köln Franz-Josef Antwerpes (SPD) in einem Verwaltungsgerichtsverfahren, Sinti und Roma seien nicht aus „rassischen Gründen“, sondern „wegen asozialen Verhaltens“ verfolgt worden. Anlass war ein Streit um Entschädigungszahlungen aus dem sogenannten Härtefonds für NS-Opfer. Viele Betroffene blieben erneut ausgeschlossen – trotz der klaren Erklärung von 1982. Erst nach öffentlichen Protesten des Zentralrats und einer Demonstration in Köln wurde das Verfahren korrigiert. Diese Episode zeigte: Der Antiziganismus hatte die Nachkriegsrepublik durchdrungen – nicht als offizielle Politik, aber als tief verwurzeltes Vorurteil in Verwaltung und Justiz.

Die Bildungsministerkonferenz hat mit ihrem Beschluss nun zumindest symbolisch einen weiteren Schritt getan: Die Sinti und Roma sind damit ausdrücklich Teil der schulischen Bildungsarbeit – neben Dänen, Sorben und Friesen. Doch bislang bleibt das Programm Absichtserklärung. Der Zentralrat fordert seit Jahren verbindliche Bildungsprogramme, die das Wissen über Geschichte und Kultur der Minderheit fest verankern. Das will die KMK nun umsetzen – bislang aber ohne klaren Zeitplan. News4teachers

Hier lässt sich der vollständige KMK-Beschluss herunterladen. 

„Die Zahlen sind erschreckend“: Schulen sind kein sicherer Ort für Sinti und Roma (Schuld tragen auch Lehrkräfte)

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