DÜSSELDORF. Zwei Jahre lang hat die Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“ des nordrhein-westfälischen Landtags an Handlungsempfehlungen gearbeitet – 248 an der Zahl. Doch in einer zentralen Frage herrscht weiter Stillstand: der Schulstruktur. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW zeigt sich enttäuscht, dass die Kommission keine Einigung über strukturelle Reformen erzielen konnte.
„Dass sich der Landtag zwei Jahre lang so intensiv mit der Frage befasst hat, wie Bildung in NRW gerechter werden kann, zeigt: Auch politisch ist angekommen, dass unser Bildungssystem seine zentrale Aufgabe nicht erfüllt“, erklärt GEW-Landesvorsitzende Ayla Çelik (News4teachers berichtete über den Abschlussbericht – hier). Doch in der Strukturfrage bleibe das Ergebnis ernüchternd. „Unser aktuelles Bildungssystem schafft es weder, soziale Ungleichheiten wirksam zu kompensieren, noch alle Kinder ausreichend auf die Anforderungen einer gerechten, demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Hier bleibt die Kommission hinter den Erwartungen zurück.“
Zwar betont die GEW, dass die Enquetekommission richtige Schwerpunkte bei der frühkindlichen Bildung, Grundschule und Ganztag setze – dort müsse die Landesregierung aber dringend „ihre Hausaufgaben machen“. Doch was die Organisation besonders vermisst, ist eine offene Debatte über die Zukunft der Schulformen.
Schulstruktur: Wildwuchs statt Klarheit
Ein Blick in den Abschlussbericht zeigt, warum die Strukturfrage so umstritten bleibt. Nordrhein-Westfalen verfügt heute über sage und schreibe zwölf allgemeinbildende Schulformen – von der Hauptschule bis zur Waldorfschule. Diese Vielfalt ist das Ergebnis von Jahrzehnten wechselnder Bildungspolitik und elterlicher Präferenzen.
Was einst als dreigliedriges System begann – Hauptschule, Realschule, Gymnasium – hat sich zu einem kaum überschaubaren Geflecht entwickelt. Neben Gesamtschulen, Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen existieren heute auch PRIMUS-Schulen und verschiedene Förderschultypen. Kommunen dürfen weitgehend selbst entscheiden, welche Schulformen sie anbieten – mit der Folge, dass in manchen Städten kaum noch Hauptschulen existieren, während andere gleich mehrere unterschiedliche Schulformen parallel unterhalten.
Seit 2010 sind zusätzliche Modelle wie Gemeinschaftsschulen und Sekundarschulen hinzugekommen, die ursprünglich als Antwort auf sinkende Schülerzahlen und veränderte Bildungswege gedacht waren. Doch anstatt das System zu vereinfachen, hat NRW die Komplexität weiter erhöht. Der „Schulkonsens“ von 2011 zwischen SPD und CDU schrieb das Nebeneinander dieser Formen fest – und damit auch den Status quo.
Die Bilanz der vergangenen Jahre zeigt deutliche Verschiebungen: Die Zahl der Hauptschulen ist um rund 70 Prozent zurückgegangen, die der Realschulen um mehr als 30 Prozent, während die Gesamtschulen um über 40 Prozent zulegten. Die Zahl der Gymnasien blieb nahezu stabil. Damit zeigt sich ein Trend hin zu integrierten Schulformen – allerdings ohne klare strukturelle Neuordnung.
SPD will Zweigliedrigkeit – doch CDU blockt
Die SPD hatte gehofft, den Stillstand zu beenden. In einem Sondervotum fordert sie, das Schulsystem binnen zehn Jahren auf zwei Säulen zu reduzieren: Gymnasien und Gesamtschulen sollen als Schulen der Sekundarstufen I und II bestehen bleiben, Haupt-, Sekundar- und Realschulen zu einer gemeinsamen Schulform verschmolzen werden. Damit würde NRW jenen Bundesländern folgen, die bereits auf ein zweigliedriges System umgestellt haben – vor allem Hamburg, das sich mit einer klaren Struktur in den vergangenen zehn Jahren in allen Bildungsrankings nach oben gearbeitet hat, gilt als Beispiel.
Doch die Regierungsfraktionen von CDU und Grünen lehnten diesen Vorschlag ab. Sie verweisen auf die kommunale Schulvielfalt als Stärke und sehen im bestehenden Modell ausreichend Durchlässigkeit. Die SPD konnte sich mit ihrer Forderung nicht durchsetzen – die Kommission verabschiedete ihre Handlungsempfehlungen ohne Konsens in dieser Frage.
Forschung mahnt: Ohne Strukturreform keine Bildungsgerechtigkeit
Dass der Strukturstreit mehr ist als eine ideologische Frage, zeigen auch die wissenschaftlichen Analysen im Bericht. Bildungsforscher wie Klaus Klemm und Aladin El-Mafaalani haben wiederholt betont, dass soziale Ungleichheit in Deutschland eng mit der Schulstruktur verknüpft ist. Auch im Enquete-Bericht heißt es, der Befund sei eindeutig: „Unser Bildungssystem verkehrt das Differenzprinzip ins Gegenteil.“ Statt den Schwächeren zu nützen, profitierten jene, die ohnehin privilegiert sind.
Schon 2023 hatte der Bildungsforscher Marcel Helbig konstatiert, dass die Politik „der Strukturfrage ausweiche“. Denn jede ernsthafte Debatte darüber stelle „das Gymnasium in seiner jetzigen Form in Frage“ – und mobilisiere jene Gruppen, die am meisten vom Status quo profitierten. Auch Pädagoge Klaus Tillmann wird im Bericht mit den Worten zitiert: „Die Forderung nach einer Schule für alle Kinder ist 2023 genauso richtig wie 1972.“
Ein System der Vielfalt – oder der Widersprüche?
Der Bericht schließt mit einem Beispiel, das zeigt, wie Durchlässigkeit im bestehenden System funktionieren kann: Auf einem Schulcampus in Meckenheim arbeiten Gymnasium, Realschule und Hauptschule eng zusammen. Schüler können zwischen den Bildungsgängen wechseln, ohne die Schule zu verlassen. Solche Modelle, heißt es, könnten den Weg zu mehr individueller Förderung weisen – ohne die Schulformen abzuschaffen.
Doch ob solche Inselprojekte reichen, um Chancengleichheit herzustellen, bezweifelt die GEW. Ayla Çelik fordert, die Politik müsse endlich „die verhasste Schulstrukturfrage“ anpacken, wenn sie es mit Bildungsgerechtigkeit ernst meine. News4teachers
Gemeinsame Schule für alle: GGG fordert radikale Reform des Schulsystems