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“Physikunterricht muss Geschichten erzählen“:  Wie Gamification die MINT-Fächer beleben kann – ein Interview

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KÖLN. „Physics keeps me flying“ – dieses Motto hat Professor Dr. André Bresges, Physiker und Physik-Didaktiker an der Universität Köln, über sein Linkedin-Profil geschrieben. Ihn treibt die Frage um, wie mehr junge Menschen (so wie ihn selbst) für die MINT-Fächer begeistert werden können. Ein Gespräch über Gamification, Storytelling und die Zukunft des Physikunterrichts.

Keeps me flying. Illustration: Shutterstock

News4teachers: Herr Professor Bresges, Sie schreiben auf Ihrem LinkedIn-Profil: „Physics keeps me flying.“ Wenn man sich die Ergebnisse der jüngsten IQB-Studie anschaut, scheint das für viele Schülerinnen und Schüler leider nicht zu gelten. Begeisterung für Physik ist selten geworden, oder?

André Bresges: Ja, das stimmt. Mein Satz ist ein verschlüsselter Hinweis darauf, wie ich überhaupt zur Physik gekommen bin – und warum sie mich bis heute trägt. Ich habe die Prinzipien der Physik in der Praxis verstanden, auf See und in der Luft. Ich bin klassischer Nautiker. Während meiner Wehrdienstzeit fuhr ich auf einem Schnellboot auf der Ostsee.

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Einmal kam es fast zu einem schweren Unfall: Wir fuhren mit zu hoher Geschwindigkeit, die Wellenlänge war zu kurz – das Boot tauchte ein, grünes Wasser vor dem Steuerstand, das Schnellboot drückte sich selbst unter Wasser. In dem Moment wurde mir klar: Diese physikalischen Begriffe aus dem Unterricht – Wellenlänge, Kräfte, Momente – waren plötzlich lebenswichtig. Wir mussten schnell handeln, um das Leben der Besatzung zu retten. Da habe ich verstanden, was Physik eigentlich bedeutet.

News4teachers: Das war der Moment, in dem Sie die Relevanz von Physik erkannt haben?

Bresges: Genau. Physik ist spannend und überlebensrelevant – aber schlechter Physikunterricht schafft es nicht, das Spannende und das Relevante zusammenzuführen. Die Frage „Was hat das mit meinem Leben zu tun?“ stellen Schülerinnen und Schüler völlig zurecht. Wenn wir diese Brücke nicht schlagen, verlieren wir sie. Das ist der Kern meiner Arbeit – the story of my life.

Zukunft erkunden: TouchTomorrow-Explore

Prof. André Bresges gibt Anregungen, den MINT-Unterricht spielerischer und spannender zu gestalten.

Da trifft es sich gut, dass die gemeinnützige Dr. Hans Riegel-Stiftung ihr Bildungsangebot um eine digitale Komponente erweitert hat: Die neue App „TouchTomorrow-Explore“ ermöglicht es Jugendlichen ab sofort, einen virtuellen Themenpark zu Zukunftstechnologien zu erkunden – kostenlos und ortsunabhängig. Das Besondere daran: Mit 3D-Modellen, kurzen Info-Videos und interaktiven Quizfragen können Schülerinnen und Schüler spielerisch in die Zukunftsthemen Mobilität und Robotik eintauchen.

Weitere Infos und kostenloser App-Download: www.touchtomorrow-explore.de

News4teachers: Ich oute mich mal: Ich gehöre zu der Schülergruppe, die nie verstanden hat, was diese Formeln sollen. Um mehr junge Menschen für Physik zu begeistern, spielt Anschauung sicher eine große Rolle, oder?

Bresges: Absolut. Ich erzähle das gerne so: Stellen Sie sich einen erfahrenen Kapitän auf der Brücke vor, der das Muster der Wellen lesen kann. Er sieht etwas, was andere nicht sehen, und bringt sein Schiff sicher in den Hafen. Das ist eine Geschichte – und genau solche Geschichten können wir erzählen, um Physik zu vermitteln. Digitale Medien sind dafür ideal, weil sie Brücken schlagen: zwischen Menschen, die eine Geschichte erlebt haben, und jenen, die daraus etwas lernen können. Geschichten schaffen Muster, die sich im Gedächtnis verankern. Seit Jahrtausenden vermitteln Menschen so Wissen – am Lagerfeuer, heute digital.

News4teachers: Der klassische Physikunterricht ist ja nun alles andere als geschichtenreich.

Bresges: Ja, das stimmt leider oft. Der Physikunterricht, wie wir ihn heute noch oft erleben, stammt aus einer Zeit, in der Effizienz wichtiger war als Verständnis. In den 1940er-Jahren, während der Kriegsforschung, ging es um Ergebnisse, nicht um Erkenntnis. Hilfskräfte, die in den Laboren arbeiteten, bekamen einfache Versuchsanleitungen – „Kochrezepte“. Daher stammt auch der Begriff „Kochrezept-Experiment“. Diese Arbeitsweise war effizient, aber sie entmenschlichte das Lernen. Viele, die in dieser Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks Physik gelernt hatten, gaben das so weiter– über Generationen hinweg. So wurde Physik zur effizienten Messdisziplin. Effizienz ist aber gerade eben nicht das gleiche wie Kreativität und Innovationsgeist. Deshalb müssen wir jetzt dieses Erbe korrigieren. Wir brauchen wieder Geschichten mit Herausforderungen die angegangen werden müssen – nicht Rezepte, die man stumpf abarbeitet.

“Spielen ist eine der ältesten und wirkungsvollsten Lernformen der Menschheit. Wir spielen, um Handlungswissen zu erwerben”

News4teachers: Was dann zum Stichwort Gamification führt, oder?

Bresges: Ganz genau. Jedes gute Spiel erzählt eine Geschichte. Aber viele Lehrkräfte zucken bei dem Wort „Spiel“ zusammen – sie denken an die Gamescom, an Jugendliche, die die Nacht durchzocken. Dabei ist Spielen eine der ältesten und wirkungsvollsten Lernformen der Menschheit. Wir spielen, um Handlungswissen zu erwerben. Kinder spielen „Verstecken“, weil das einst überlebenswichtig war. Die Spieleindustrie hat diesen Lernmechanismus gekapert – um Aufmerksamkeit zu verkaufen. Wir Didaktiker müssen ihn zurückerobern, um ihn in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Das ist Gamification.

News4teachers: Haben Sie dafür konkrete Beispiele?

Bresges: Ja. Wir entwickeln an unserer ökologischen Rheinstation in Köln – einem Schiff der Universität, das vor allem vom Zoologischen Institut genutzt wird – Lernspiele. Dann wird das Schiff zu einem Escape Room umgebaut, betreut von Studierenden, unterstützt von einer KI. Ich selbst trete darin als „Non-Player Character“ auf – als alter Kapitän, der Stöcke schnitzt. Die Schülerinnen und Schüler müssen dann zum Beispiel die Strömung des Rheins messen und erinnern sich: Der alte Captain schnitzt Stöcke – vielleicht kann man die ins Wasser werfen, um die Geschwindigkeit zu messen. So entdecken sie physikalische Prinzipien spielerisch.

News4teachers: Also kein Lernen nur am Bildschirm?

Bresges: Auf gar keinen Fall! Physik ist die Lehre von der Physis – von den realen Dingen. Ein Physikunterricht, der sich nur in der virtuellen Welt abspielt, ist keiner. Wir müssen lernen, die Welt als System zu verstehen, nach ihren Regeln. Und wenn es – wie manche behaupten – eine Simulation ist, dann müssen wir die Spielregeln dieser Simulation begreifen. Insofern ist Gamification ein hervorragendes Lehrmodell.

News4teachers: Sie haben auch von Scrum gesprochen – das klingt zunächst nach Softwareentwicklung.

Bresges: Stimmt. Aber Scrum ist im Kern ein Organisationsprinzip, das auf Teamarbeit beruht – und damit perfekt zu Schule passt. Ich habe mein Institut komplett auf Scrum umgestellt. Auch in der Schule funktioniert das: Schülerinnen und Schüler planen ihre Experimente in Sprints, schätzen den Aufwand, setzen sich Ziele, reflektieren Ergebnisse – genau wie Entwicklerteams. Lehrerinnen und Lehrer sind dabei die „Non-Player Characters“ – sie helfen, wenn man sie fragt. Das Ganze wird gamifiziert: Für erfolgreich abgeschlossene Quests gibt es Punkte, die Grundlage für eine faire Bewertung sein können. So entsteht Motivation aus dem Spiel heraus.

“Wir übernehmen das, was im Spiel funktioniert, in den Unterricht – und umgekehrt”

News4teachers: Das heißt, Sie übertragen Prinzipien aus Spielen auf den Unterricht?

Bresges: Genau. Ich arbeite an einer Konvergenz. Wir übernehmen das, was im Spiel funktioniert, in den Unterricht – und umgekehrt. Das Ziel ist, Lernprozesse menschengerecht zu gestalten.

News4teachers: Welche Rolle spielt dabei das Team?

Bresges: Eine zentrale. Wir leben in einer Zeit der Unsicherheit – politisch, ökologisch, sozial. Der US-Softwareentwickler Jeff Sutherland, der Scrum entwickelt hat, sagt: Diese Unsicherheit ist kein neues Phänomen, sondern der Normalzustand menschlicher Existenz. Der Mensch ist evolutionär darauf vorbereitet, in unsicheren Situationen zu bestehen – aber nur in Gruppen. Teams sind der Schlüssel. Lernen in Gruppen ist zutiefst menschlich. Kinder, die sagen „So will ich nicht lernen“, spüren, dass Schule ihnen oft keine Antworten auf ihre Zukunftsfragen gibt. Sie suchen sie dann in Social Media – und landen bei Leuten mit einfachen Antworten. Das ist gefährlich. Schule muss wieder ein Ort werden, an dem Teamarbeit und gemeinsames Lernen selbstverständlich sind.

News4teachers: Das erinnert an John Hattie, der zu viel Individualisierung im Unterricht kritisiert. Bei Ihnen klingt eine Lösung an: Gruppenarbeit, die individuelle Stärken nutzt und zugleich soziales Lernen ermöglicht.

Bresges: Exakt. Das ist mein Punkt. Schule kann das – sie bringt Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen und ermöglicht es, gemeinsam etwas zu schaffen. Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen, den Kompass einer Gruppe mitzubestimmen – und später auch Gruppen zu wechseln. Das ist Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung.

News4teachers: Wenn eine Physiklehrkraft das liest – was kann sie konkret tun?

Bresges: Ich empfehle einen Blick auf EduScrum. Das ist die Adaption von Scrum für Schulen. Man muss nichts neu erfinden, kein Geld in teure Geräte stecken. Es reicht, mit dem zu arbeiten, was da ist – und es zu gamifizieren. Wichtig ist: Produkte statt Noten. Wenn Gruppen erfolgreich arbeiten, bekommen alle Punkte für das Lernprodukt. Das stärkt den Zusammenhalt und belohnt Kooperation. Schülerinnen und Schüler, die mitdenken und Verantwortung übernehmen, werden automatisch die erfolgreichsten sein – nicht, weil sie schlaue Einzelgänger sind  sind, sondern weil sie jede Gruppe, in der sie mitarbeiten, besser machen.

News4teachers: Das lässt sich also schon heute in der Schule umsetzen?

Bresges: Ja. Gamification ist keine Frage der Technik, sondern der Haltung. Lehrkräfte sollten lernen, Geschichten zu erzählen, Gruppenarbeit zu fördern und die spielerischen Mechanismen des Lernens zu nutzen. Das ist die Zukunft des Unterrichts. News4teachers / Andrej Priboschek führte das Interview

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