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Gewalt gegenüber Lehrkräften: Polizeigewerkschaft sieht Erziehungsdefizite – „Daher muss man an die Eltern ran, an das Zuhause“

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DÜSSELDORF. Gewalt gegen Lehrkräfte nimmt zu – sichtbar in Polizeistatistiken, spürbar im Schulalltag, politisch umkämpft in der Deutung. Nordrhein-Westfalen liefert mit stark steigenden Fallzahlen ein Beispiel für eine Entwicklung, die Schulleitungen und Verbände bundesweit beobachten: mehr Bedrohungen, mehr Übergriffe, mehr Verunsicherung. Während Landesregierungen auf Prävention und Ordnung setzen, verweisen Lehrkräfteverbände und Gewerkschaften auf hohe Dunkelziffern, strukturelle Hürden beim Melden von Gewalt und einen Mangel an Unterstützung für Betroffene.

Bedingt abwehrbereit (Symbolfoto.) Foto: Shutterstock

Heiko Mewes unterrichtet seit 25 Jahren an einer Gesamtschule. „Es ist schon so, dass ich des Öfteren nicht mehr ganz so entspannt in die Schule gehe“, sagt er in einem Interview mit dem SWR. Schülerinnen und Schüler seien „gewaltbereiter geworden“. Was ihn besonders belastet, ist aber etwas anderes: „Ein neues Phänomen ist hinzugekommen, das ist die Elternarbeit.“ Eltern tauchten unangekündigt in der Schule auf, stünden plötzlich im Klassenraum und wollten „Dinge sofort klären – und das auf ihre Art und Weise“. Mewes berichtet von bedrohlichen Situationen, von Ängsten, mit denen Lehrkräfte umgehen müssten. „Ich erlebe ja auch tatsächlich bedrohliche Situationen. Das ist natürlich unschön. Und das sind auch Ängste, die vorhanden sind.“

Was der Lehrer aus Rheinland-Pfalz schildert, wird derzeit in Nordrhein-Westfalen politisch diskutiert – gestützt auf aktuelle, besorgniserregende Zahlen. Laut dem aktuellen Lagebild der Polizei zur Jugendkriminalität, über das die Rheinische Post berichtet, wurden im vergangenen Jahr in NRW 837 Lehrerinnen und Lehrer an ihren Schulen angegriffen. Im Jahr zuvor waren es 628. Das entspricht einem Anstieg von gut 33 Prozent. „Damit setzt sich der steigende Trend der Vorjahre fort“, teilte das Landesinnenministerium mit.

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„Ist das gut für unsere Schule, wenn solche Dinge nach außen dringen?“

Der Präsident des Lehrerverbandes NRW, Andreas Bartsch, fordert dem Bericht zufolge Konsequenzen. „Wir brauchen bei den Bezirksregierungen eine Stelle, an die Lehrkräfte sich vertraulich wenden können“, sagt er. „Jeder Fall sollte bei der Bezirksregierung registriert werden.“ Bartsch hält die offiziell bekannten Zahlen für unvollständig. Seiner Einschätzung nach ist die Dunkelziffer weiterhin hoch. „Jeder Lehrer wird erstmal versuchen, ein Problem selber zu regeln“, sagt er. Erst wenn das nicht mehr gelingt, gehe man zum Schulleiter. Schon dieser Schritt sei für viele eine emotionale Hürde. Hinzu komme die Sorge, der eigenen Schule zu schaden. Die unausgesprochene Frage laute oft: „Ist das gut für unsere Schule, wenn solche Dinge nach außen dringen?“

Auch die Landesregierung räumt ein, dass die Zahlen nicht eindeutig zu interpretieren sind. Bildungsministerin Dorothee Feller erklärt, man habe „das Thema fest im Blick“. „Hier darf es keine falsch verstandene Toleranz geben“, so die CDU-Politikerin gegenüber der Rheinischen Post. Lehrkräfte würden ausdrücklich ermutigt, bei Gewaltvorfällen konsequent einzuschreiten und Ordnungsmaßnahmen strikt anzuwenden. Im Schulministerium verweist man darauf, dass eine gestiegene Sensibilität für Gewalt und eine höhere Anzeigebereitschaft ebenfalls zu den steigenden Fallzahlen beitragen könnten. Entscheidend sei Transparenz. Vorfälle dürften nicht übersehen werden.

In NRW wurden inzwischen verschiedene Maßnahmen angestoßen: Leitfäden für den Umgang mit Gewalt, zusätzliche Mittel für Schulsozialarbeit, Programme zur Stärkung sozialer Kompetenzen und Pilotprojekte mit Polizeipräsenz an Schulen. Gleichzeitig warnen Polizeigewerkschaften vor überzogenen Erwartungen. „Wir können als Polizei Versäumnisse in der Erziehung nicht auffangen“, sagt der Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Erich Rettinghaus. Es werde nicht nur schwieriger, mit Kindern umzugehen, sondern auch mit den Eltern. „Daher muss man an die Eltern ran, an das Zuhause.“

„Das soziale Klima ist in den letzten Jahren spürbar rauer geworden, das spiegelt sich auch an den Schulen wider“

Was sich in NRW zuspitzt, ist kein regionales Phänomen. Bundesweit berichten Schulleitungen von einer zunehmenden Gewaltproblematik. Das zeigt eine vom Verband Bildung und Erziehung in Auftrag gegebene forsa-Umfrage unter Schulleiterinnen und Schulleitern, die im vergangenen Januar veröffentlicht wurde (News4teachers berichtete). Demnach gaben 60 Prozent der Befragten an, dass körperliche und psychische Gewalt an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren eher zugenommen habe. Nur vier Prozent beobachteten einen Rückgang.

„Das soziale Klima ist in den letzten Jahren spürbar rauer geworden, das spiegelt sich auch an den Schulen wider“, erklärt der VBE dazu. Schulleitungen berichteten von Beschimpfungen, Bedrohungen, Beleidigungen, Mobbing und Belästigungen gegenüber Lehrkräften. Knapp zwei Drittel der Befragten erinnerten sich an entsprechende Fälle in den vergangenen fünf Jahren. An mehr als jeder dritten Schule wurden Lehrkräfte über das Internet bedroht oder körperlich angegriffen. Die Werte liegen deutlich höher als noch 2018.

Wie groß das Ausmaß tatsächlich ist, darüber wird seit Jahren gestritten. Uwe Schledorn, ehrenamtlicher Experte der GEW NRW für das Thema Gewalt an Schulen, spricht von einem massiven Dunkelfeld. Gewalt gegen Beschäftigte im Schuldienst sei vielfältig und reiche von körperlichen Angriffen über psychische Gewalt, Bedrohungen und Nötigung bis hin zu sexueller und sächlicher Gewalt. Die medial besonders präsenten Messerangriffe seien „nur die Spitze“.

Eine Onlinebefragung des Bezirkspersonalrats in Münster aus dem Frühsommer 2023 zeigt, wie verbreitet Übergriffe sind: 86 Prozent der teilnehmenden Beschäftigten gaben an, im Dienstalltag bereits mehrfach Opfer verbaler oder physischer Gewalt geworden zu sein. Gleichzeitig erklärten mehr als 70 Prozent, dass das Vorgehen bei Gewalt gegen Lehrkräfte an ihren Schulen nicht transparent oder uneinheitlich geregelt sei. Vielen seien bestehende Handreichungen und Notfallordner nicht einmal bekannt.

„Die meisten Kinder, die wir haben, die sind auch wirklich in Ordnung“ – aber…

Dass viele Vorfälle nicht gemeldet werden, ist aus Sicht der GEW kein Zufall. Schledorn verweist auf strukturelle und institutionelle Hürden – aber auch auf politische Gründe. In einer Studie der Hochschule für öffentliche Verwaltung Speyer wurde 2022 ein Dunkelfeld von 72 Prozent festgestellt. Viele alltägliche Übergriffe fänden keinen Eingang in Statistiken. Der Konfliktforscher Andreas Zick wird mit den Worten zitiert: „Das Thema wird öffentlich diskutiert, berührt den Alltag an Schulen und doch fehlt es am Willen, Fakten zu erzeugen und das Thema umfangreich zu untersuchen.“

Hinzu komme, dass Gewalt häufig unterschiedlich definiert werde und psychische Gewalt von Betroffenen selbst heruntergespielt werde. Gewalt sei zudem nach wie vor ein Tabuthema. Manche wollten nicht als schwach gelten, andere wollten dem Ruf ihrer Schule nicht schaden. Es entstehe eine „Kultur des Schweigens, der Zensur und der Selbstzensur“.

Die GEW NRW fordert deshalb einen ehrlichen Umgang mit dem Thema, realistische und ungefilterte Zahlen, ein vereinfachtes, digitales Meldesystem sowie eine klare Opferorientierung. Betroffene dürften nicht alleingelassen werden, Gewalttaten müssten dokumentiert und als Arbeits- oder Dienstunfälle ernst genommen werden. Prävention brauche Zeit, Personal und Entlastung.

Für Lehrer wie Heiko Mewes bleiben die Probleme prägend. Er erinnert sich an einen Fall eines befreundeten Kollegen, der bis heute nachwirkt. Ein Schüler habe Feuerwerkskörper gezündet, der Lehrer sei hinausgegangen – und mit einer Holzlatte ins Gesicht geschlagen worden. „Das ist auch ein Fall, der beschäftigt mich eigentlich heute immer noch“, sagt Mewes. „Denn ich nehme das auch selbst wahr, dass die Bedrohungen zugenommen haben in der Schule.“

Trotzdem macht er deutlich, dass es nicht um eine pauschale Verurteilung gehe. „Die meisten Kinder, die wir haben, die sind auch wirklich in Ordnung.“ Es seien wenige, die den Schulalltag eskalieren ließen. „Nur leider sind das die fünf Prozent, die so einen Laden auch auseinandernehmen können.“ News4teachers 

Umfrage: Sieben von zehn Lehrkräften haben verbale Gewalt erfahren, jede fünfte Lehrkraft sogar körperliche

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