JENA. Der Jenaer Pädagogikprofessor Winkler versteht den Ärger um G8. Die Reform sei schlecht umgesetzt worden. Zudem gibt es für ihn kein einziges wissenschaftliches Argument, das für das schnellere Abitur spricht.

Das verkürzte Abitur nach acht Schuljahren ist nach Ansicht des Jenaer Pädagogikprofessors Michael Winkler überhastet eingeführt worden. «Schulpolitik ist ein großer Tanker, der lässt sich nicht ohne weiteres von heute auf morgen umsteuern», sagte Winkler. «Die Reform war nicht ordentlich vorbereitet und begleitet.» Der Widerstand von Schülern, Eltern und Lehrern sei deshalb verständlich – und er hätte von der Politik vorhergesehen werden können.
Seines Wissens gebe es keine wissenschaftliche Untersuchung, die den schnellen Weg zum Abitur pädagogisch begründe, sagte der Professor an der Friedrich-Schiller-Universität. «Das war eine rein fiskalpolitische Entscheidung – mehr nicht.» Die Bundesländer hätten schlicht Lehrkräfte einsparen wollen.
Im Gegenzug gebe es einige Argumente, die eine verkürzte Gymnasialzeit pädagogisch infrage stellten. «Die Vorverlegung der zweiten Fremdsprache von der siebten auf die sechste Klasse etwa ist eine entwicklungspädagogische Katastrophe», sagte der Professor. Die Schüler müssten sich in der sechsten Klasse erst noch an die erste Fremdsprache gewöhnen, da überfalle sie schon die zweite. «Damit sind viele überfordert.»
Überfrachtung der Lehrpläne
Das Hineinpressen des Stoffs in zwölf Schuljahre habe zudem zu einer Überfrachtung der Lehrpläne geführt. In vielen Fächern werde bereits abgespeckt. «In den Sprachen gibt es weniger Übungsteile, Sozialkunde und Geschichte wird eingedampft, und in Bayern wird sogar in der Biologie gekürzt.» Dies führe unter dem Strich zu einem Abitur minderer Güte.
Als Beleg führte Winkler die jährliche Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium in Österreich an, wo die Schüler nach acht Jahren die sogenannte Matura ablegen. «Bei den Prüfungen schnitten die deutschen Teilnehmer bislang regelmäßig besser ab, sehr zum Ärger der österreichischen Bewerber, die den Studienplatz einem Deutschen überlassen mussten.» Das belege eindrucksvoll, dass die längere Abiturzeit zu besseren Ergebnissen führe.
Auch die gesellschaftspolitischen Folgen dürften nicht unterschätzt werden. «Mit der Einführung von G8 sind die Kinder mehr in der Schule gebunden und haben kaum noch Zeit für Vereine oder ehrenamtliches Engagement», sagte der Pädagoge. Auf der anderen Seite verließen viele Abiturienten die Schule sehr jung und wüssten oft noch nicht, was aus ihnen werden soll. Dies führe zu einer deutlichen Steigerung der Nachfrage beim sozialen Jahr und ähnlichen Angeboten. «Wenigstens in diesem Sinn hat die Reform ihr Gutes.»
Dass G8 in den neuen Bundesländern weitgehend reibungslos funktioniere, hat für Winkler historische Gründe. «In der DDR konnte man nach acht Jahren Abitur machen. Diese Struktur wurde in einigen der neuen Länder nach der Wiedervereinigung übernommen.» So gebe es im Vergleich zum Westen deutlich mehr Ganztagsschulen. dpa
(17.11.2012)
