HANNOVER. Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen, Mannheim/Heidelberg, erläuterte in einem Vortrag „Wie die Hirnforschung zur Verbesserung der Unterrichtspraxis beitragen kann“, welche Rahmenbedingungen für gutes Lernen nötig sind und was Schulen und Lehrer tun können, um Kinder beim Lernen zu unterstützen. So weit so gut. Allerdings würzte der Hirnforscher seine Ausführungen mit provokanten Thesen.
„Man kann Kinder nicht unterrichten“, sagte Hüther gleich zu Beginn seines Vortrags. Schließlich könne man keine Vernetzungen im Gehirn machen. Allerdings können Lehrer und Schulen – auch mithilfe der Erkenntnisse der Hirnforschung – einen Rahmen schaffen, damit Bildung gelingt, so der Fachmann. Entscheidend sei es, sich von den Vorstellungen der Leistungsgesellschaft, erfolgreich zu sein, zu verabschieden. Denn: Im Gegensatz zum Sport und einem Sieg beim Fußball könne Bildung nicht erfolgreich sein, sondern nur gelingen und dafür wiederum müsse man als Lehrer ein inneres Bild haben, wie dies aussehen könnte.
„Kinder sind keine Fässer, in die Wissen abgefüllt wird“, sagte der Hirnforscher. Die größte pädagogische Leistung der vergangenen 50 Jahre ist für Hüther die Tatsache, dass Schüler mit Downsyndrom ihr Abitur gemacht hätten und nun studieren würden. Damit dies möglich werde, müssten Pädagogen sich auf die Stärken der Kinder fokussieren und ihre Vorstellungen über Bord werfen. „Vorstellungen sind etwas ganz Elendes, denn sie hindern einen daran zu sehen, was es wirklich ist“, so der Wissenschaftler.
„Jedes Kind ist hochbegabt“, sagte Hüther. Es habe einen Überschuss an Nervenzellen, die es eigentlich nicht braucht und könne im Grunde alles lernen. Jedes Kind habe das Gehirn, das zu seinem Körper passe. Die Kinder seien schon zum Zeitpunkt der Geburt unterschiedlich, wobei das eine Gehirn nicht besser sei als das andere, betonte er. „Das Gehirn ist kein Muskel“, erklärte der Experte. Deshalb können Kinder laut Hüther nur das verankern, was für sie bedeutsam ist und ihnen „unter die Haut“ geht. Aber wie kann man für Schüler etwas bedeutsam machen, was sie gar nicht lernen wollen? Derzeit werde Lernstoff an vielen Schulen mit Bedeutung aufgeladen, indem Schülern mit Bestrafung gedroht wird oder sie mit Belohnung gelockt werden. Kinder würden dressiert, Belohnungen zu ergattern und Bestrafungen zu vermeiden. Aber selbst wenn Schüler einen 1,0-Abiturdurchschnitt bekämen und gute Noten ergatterten, fehle ihnen die Leidenschaft – und die ist nun mal entscheidend fürs Lernen.
Um Lernstoff für Schüler bedeutsam zu machen, ist laut dem Hirnforscher der Lehrer als Person zentral. Er müsse den Schülern Mut machen, sie motivieren, inspirieren und einladen können. Hüther forderte von den Pädagogen, die Kinder mit einem „offenen Blick“ anzuschauen, sich nicht zufriedenzugeben und die eigenen Vorstellungen über Bord zu werfen. Darüber hinaus müsse man als Lehrer selbst begeistert sein. Die gute Nachricht: Laut Hüther kann hirntechnisch jeder Mensch „wiedererweckt“ werden. Also gelte es, zunächst die Sehnsucht in sich selbst zu erwecken und sie dann weiterzugeben.
Abschließend warb der Hirnforscher dafür, die „peergroup-Effekte“ und Teamarbeit unter den Schülern zu nutzen, weil diese für die Mitschüler der „bedeutendste Lehrer“ seien. Das Teilen von Wissen und Erfahrungen, das Gefühl beteiligt zu sein und gebraucht zu werden, würde Kinder begeistern. Zentral sei es, keine gleichartigen Gruppen zu bilden. Hüther: „Je verschiedener die Schüler, desto stärker können sie zu einem Gelingen beitragen.“ Lobend hob er die Zusammenarbeit der Kinder und Jugendlichen in einem Theaterprojekt, Orchester oder das Singen im Chor hervor. Diese zeigten, dass Großes nur gelingt, wenn man es gemeinsam in einer Gruppe macht.
„Schulen sind keine Gewächshäuser“, sagte Hüther, mit EU-genormten Gurken und PISA-Gestesteten. Schulen müssen sich öffnen und den Kindern zeigen, wofür sie draußen – außerhalb der Schule – gebraucht werden. Dann könne Schule gelingen. FRAUKE KÖNIG
(23.2.2012)
