MÜNCHEN. Die Kenntnisse deutscher Viertklässler in Sachen Rechtschreibung sind in den vergangenen vier Jahrzehnten deutlich schlechter geworden. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. Der bayerische Philologenverband ist alarmiert – und fordert einen anderen Deutschunterricht in der Grundschule.
In einer bundesweit einzigartigen Längsschnittstudie haben der Siegener Germanistikprofessor Wolfgang Steinig und seine Mitarbeiter über einen Zeitraum von 40 Jahren untersucht, wie sich die Schreibfähigkeiten von Viertklässlern in Deutschland verändert haben. Neben der Orthografie haben die Bildungsforscher auch Textgestaltung, Grammatik und Wortschatz getestet. Erstes Ergebnis: Die Fähigkeit der Schüler, Texte orthografisch korrekt und grammatikalisch normgerecht zu schreiben, hat im Durchschnitt stark abgenommen.
Die ersten Daten der Untersuchung stammen von 1972. Damals habe Steinig vier Grundschulen in Dortmund und Recklinghausen besucht und Schülern der vierten Klassen einen zweiminütigen Amateurspielfilm gezeigt, berichtet die „Zeit“: Kinder streiten um eine Puppe, schließlich greift eine Frau ein. Im Anschluss sollten die Schüler aufschreiben, was sie gesehen hatten. In den Jahren 2002 und 2012 wiederholte Steinig das Experiment. Insgesamt hätten die Sprachwissenschaftler knapp 1000 Texte von Kindern ausgewertet.
Von sieben Fehlern auf 17
„Besonders deutlich fallen die Befunde zur Rechtschreibung aus: Die Zahl der Fehler pro hundert Wörter stieg von durchschnittlich sieben im Jahr 1972 auf zwölf im Jahr 2002 an und dann noch einmal auf 17 Fehler im Jahr 2012“, heißt es. Vor allem mit der Kennzeichnung von langen und kurzen Vokalen und mit den Regeln für die Groß- und Klein- sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung hätten viele Kinder heute mehr Probleme als früher.
Allerdings gebe es in den vergangenen 40 Jahren auch positive Entwicklungen: So seien die Texte von 2002 nicht nur länger als die von 1972, sie zeigten auch einen beträchtlich vergrößerten Wortschatz, seien lebendiger geschrieben und spannender zu lesen. „Darin zeigen sich die Folgen eines Schulunterrichts, der von den siebziger Jahren an zwar immer weniger Wert auf ‚harte‘ Kompetenzen wie Rechtschreibung, Grammatik und Interpunktion legte, dafür aber die Kreativität der Schüler, ihre Freude am freien Schreiben und ihre Ausdrucksfähigkeit förderte“, heißt es.
Den Philologenverband beruhigt das nicht. Denn: „Wenn man die Gründe für diese Veränderungen betrachtet, kann auch dies kein Grund zur Freude sein.“ Steinig erkenne nämlich vorrangig soziale Faktoren als Ursache: Die Zunahme des Wortschatzes finde sich fast ausschließlich bei Mittelschichtkindern, die schlechtere Rechtschreibung betrifft in erster Linie Kinder aus sozial schwächeren Familien. Hierzu sagt der Vorsitzende der bayerischen Philologen, Max Schmidt: „Unterricht, der das freie Schreiben statt das Einüben sprachlicher Normen bevorzugt, benachteiligt gerade die Schwachen. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern brauchen Förderung, sie dürfen nicht zurückgelassen werden!”
Die daraus abzuleitende Forderung ist für Schmidt klar: “Die Grundschule muss hier auffangen, was zu Hause nicht geleistet werden kann. Nur so können sämtliche Bildungspotentiale ausgeschöpft werden. Dazu ist wieder mehr Deutschunterricht – beispielsweise statt des Englischunterrichts – an der Grundschule erforderlich! Und es ist dringend notwendig, das freie Schreiben mit einem stringenten Rechtschreibunterricht zu begleiten, der den Kindern Rechtschreibstrategien und Regeln an die Hand gibt!” News4teachers
Zum Bericht: Lehrer-Sprecher Kraus fordert: Weg mit Englisch in der Grundschule