BONN. Die Kritik ist scharf. „Insgesamt bleibt der Umsetzungsstand hinter den Erwartungen, die man an die Implementierung des Menschenrechts auf inklusive Bildung fünf Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland stellen darf, zurück“, so lautet das Fazit einer Studie der zur Inklusion in Deutschland. Diese wurde jetzt auf einem Gipfel zum Thema in Bonn vorgestellt, den die deutsche UNESCO-Kommission veranstaltet.
Vor fünf Jahren trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Damit verpflichtete sich Deutschland, die Inklusion in der Bildung an den Schulen umzusetzen – und die Umsetzung von einer unabhängigen Monitoring-Stelle kontrollieren zu lassen. Bildung ist in Deutschland allerdings Ländersache. Zwei Rechtswissenschaftler haben im Auftrag der seit 2009 existierenden Monitoring-Stelle die Schulgesetze und Verordnungen der 16 Bundesländer untersucht, um einen aktuellen Überblick über den Stand der Inklusion in Deutschland zu bekommen. Das Ergebnis: „Es sind noch erhebliche Anstrengungen erforderlich, bis die Rede davon sein kann, dass das deutsche Schulrecht – und zwar das gesetzliche wie das untergesetzliche – die verbindlichen Vorgaben des Rechts auf inklusive Bildung hinreichend oder gar vollständig umsetzt und erfüllt“, so schreiben die Autoren.
In der Gesamtschau sei in keinem Bundesland nach gegenwärtigem Stand ein abschließend entwickelter rechtlicher Rahmen erkennbar, der, am Maßstab der Vorgaben aus dem Recht auf inklusive Bildung gemessen, den Aufbau und die Unterhaltung eines inklusiven Bildungssystems hinreichend oder gar adäquat gewährleisten könnte. Vier Bundesländer (Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) haben der Studie zufolge inzwischen die Weichen auf der rechtlichen Ebene gestellt. In anderen Ländern (zum Beispiel in Baden-Württemberg, Berlin, Schleswig-Holstein, Thüringen) seien Anpassungen des Schulrechts in Vorbereitung oder zumindest für die nähere Zukunft angekündigt. Darüber hinaus finden sich laut Untersuchung in den meisten Ländern zwar einzelne Bausteine guter gesetzlicher Praxis und interessante Übergangslösungen, die aber insgesamt lediglich als erste Schritte hin zu einem inklusiven System gewertet werden können.
„In allen Bundesländern ist heute die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen – überwiegend sogar an den allgemeinen Schulen – rechtlich zumindest möglich und als Regelfall vorgesehen“, so schreiben die Autoren. „Allerdings gibt es in den meisten Ländern weitreichende Einschränkungen oder Vorbehalte. Der Sache nach halten alle Länder grundsätzlich an dem Förderschulsystem, das eine getrennte Beschulung fördert und institutionell verfestigt, fest.“ Den „unbedingten Rechtsanspruch von Schülerinnen und Schülern auf Zugang zu einer allgemeinen Schule mit gemeinsamem Unterricht und inklusiver Beschulung“ hätten nur wenige Länder voll verwirklicht, obwohl er zwingend von den Ländern zu gewährleisten sei.
So heißt es in der Studie:„Die Zuweisung zu einer allgemeinen Schule darf nicht, wie zurzeit in allen Bundesländern der Fall, außer in Hamburg, unter einen Ressourcen- und Organisationsvorbehalt gestellt werden. Solche Vorbehalte sind, wie auch ein allgemeiner Finanzierungsvorbehalt und ein Kapazitätsvorbehalt, gemessen am völkerrechtlichen Maßstab der UN-Behindertenrechtskonvention unzulässig.“
Mehr noch: In Baden-Württemberg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und im Saarland bestünden unter bestimmten Voraussetzungen noch immer eine rechtliche Pflicht zum Besuch der Förderschule. „Diese Regelungen verfestigen eine systematische Separierung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen und sind wegen dieser Unvereinbarkeit mit dem Recht auf inklusive Bildung abzuschaffen“, so heißt es in dem Bericht.
Im Schuljahr 2011/12 lag die Inklusionsquote laut einer Studie für die Bertelsmann-Stiftung im Bundesdurchschnitt bei 25 Prozent. Vorreiter waren Bremen (55,5 Prozent) und Schleswig-Holstein (54,1 Prozent). In Niedersachsen wurden nur 11 Prozent der Förderschüler in einer Regelschule unterrichtet. In Nordrhein-Westfalen ist es aktuell etwa jeder vierte. News4teachers