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„Beschämend“: Landesbeauftragter rügt Gymnasium, das geistig Behinderten nicht aufnehmen will

STUTTGART. Der Wunsch einer Familie, ihren Sohn Henri mit Down-Syndrom auf ein Gymnasium zu schicken, sorgt seit Wochen bundesweit für Schlagzeilen. Pro und Contra halten sich die Waage. Der Behindertenbeauftragte des Landes Baden-Württemberg bezieht eindeutig Stellung – für die Aufnahme des Jungen.  

Das letzte Wort zur schulischen Zukunft des Kindes, das bislang an einer regulären Grundschule lernt, hat Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch (SPD). Er wird nach eigener Aussage «in nächster Zeit» entscheiden. Der «Fall Henri» darf nach Überzeugung des Behindertenbeauftragten der grün-roten Landesregierung, Gerd Weimer, nicht Schule machen. Die Weigerung eines Walldorfer Gymnasiums, den geistig behinderten Jungen in die fünfte Klasse aufzunehmen, sei ein bundesweiter Einzelfall, sagt der Gymnasiallehrer im Interview.

Wie beurteilen Sie die Entscheidung des Walldorfer Gymnasiums?

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Weimer: Die finde ich beschämend. Dies umso mehr, wenn es zutreffen sollte, dass nur einer von 95 Lehrern sich für das Projekt eingesetzt hat. Das Angebot an zusätzlichen Lehrerstunden war gut: Henri hätte einen Sonderpädagogen an seiner Seite gehabt. Und Henris Mutter hätte sich auch damit zufriedengegeben, ihn zunächst nur ein Jahr aufs Gymnasium zu schicken und dann wieder neu über eine Fortsetzung zu entscheiden. Wenn Walldorf eine Gemeinschaftsschule hätte, wäre gar kein Problem entstanden, denn diese Schulart ist zur Integration Behinderter in den Regelunterricht (Inklusion) verpflichtet. Ich hätte selbst sehr große Lust, dem Gymnasium meine Dienste anzubieten, etwa in Sport und Erdkunde.

Ist Inklusion am Gymnasium zum Scheitern verurteilt?

Weimer: Nein, ganz und gar nicht. Das ist kein Präzedenzfall, sondern ein bedauernswerter Einzelfall. Jede Schulart sollte sich für Inklusion verantwortlich fühlen. Die Gymnasiallehrer werden für sich keine Ausnahme beanspruchen können.

Was raten Sie dem Kultusminister?

Weimer: Wenn das Kind an der Schule nicht erwünscht ist, tut man ihm keinen Gefallen, wenn man die Beschulung von oben verordnet. Mit der Brechstange sollte man die Inklusion nicht durchsetzen. Vielleicht lässt sich im Zuge der Bildungswegekonferenz noch eine andere inklusive Lösung für Henri finden. Minister Stoch sollte aber den Walldorfer Lehrern raten, ihre Hausaufgaben zu erledigen und sich in den kommenden zwei Jahren intensiv fortzubilden und zu lernen, mit Kindern mit Handicaps umzugehen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die mit zahlreichen Absprachen und Abstimmungen verbunden ist. Da ist auch viel Empathie nötig.

Welche allgemeinen Lehren sind aus dem «Fall Henri» zu ziehen?

Weimer: Der Konflikt zeigt, wie wichtig es für die Pädagogen ist, sich angesichts einer immer größeren Bandbreite der Schülerschaft mit individueller Förderung und zieldifferenten Unterricht auseinanderzusetzen. Die angekündigten Eckpunkte des Kultusministers müssen Klarheit über die Rahmenbedingungen der Inklusion bringen.

Wäre Henri am Gymnasium nicht ständig frustriert?

Weimer: Nein. Denn er wäre in Fächern wie Sport, Musik und Kunst in seiner Klasse, in Deutsch oder Mathematik würde ihn ein Sonderpädagoge aus der Gruppe nehmen und ihm Alternativen anbieten. Für Henri geht es nicht darum, einen regulären Schulabschluss zu erreichen, sondern mit Kindern zusammenzubleiben, die er ins Herz geschlossen hat. Interview: Julia Giertz, dpa

Zur Person: Gerd Weimer, 65, ist der erste unabhängige Landesbehindertenbeauftragte im Südwesten. Er ist kein Mitglied der Regierung. Der gebürtige Tübinger ist neben seinem Ehrenamt noch wenige Stunden an einem beruflichen Gymnasium in Tübingen tätig und hat selbst Erfahrungen mit der Inklusion gesammelt. Weimer wurde von Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) vorgeschlagen und von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ernannt. Der verheiratete Vater von zwei Kindern überwacht die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf allen staatlichen Ebenen und fungiert zudem als Beschwerde- und als Qualitätssicherungsstelle für Behinderte und deren Verbände.

Zum Kommentar: Die Grenzen der Inklusion: Der Fall Henri wird zum Politikum

 

Screenshot vom Auftritt des Landesbehindertenbeauftragten auf der Seite des baden-württembergischen Sozialministeriums.
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