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Inklusion bereitet Förderschullehrern Sorge: Was wird auf der Regelschule aus ihren Schützlingen?

BIELEFELD. Das Recht auf Inklusion in Schulen schreitet voran. Es ist zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen seit Beginn des neuen Schuljahres Realität. Behinderte Kinder haben dort nun einen Anspruch auf Unterricht an einer Regelschule. Doch Förderschullehrern bereitet der Schritt auch Sorgen.

Wird ein Kind mit Down-Syndrom an einer Regelschule genauso gut gefördert wie an einer Förderschule? Foto: Rich Johnson / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Wenn Sonderpädagogin Sarah Drexelius Englischunterricht gibt, dann sitzen vor ihr gerade mal elf Schüler. Die Anderen sind nicht etwa krank – diese Klassengröße ist hier an der Bielefelder Bonifatiusschule normal. Sie ist eine Förderschule. Hier können beeinträchtigte Schüler individuell und geschützt lernen.

Seit vergangene Woche das neue Schuljahr in NRW begonnen hat, greift im Land ein Rechtsanspruch für behinderte Kinder auf Unterricht in einer Regelschule – zunächst in den Eingangsklassen 1 und 5. Praktisch muss Eltern, die ein behindertes Kind für die Grundschule oder eine weiterführende Schule anmelden, von den örtlichen Schulbehörden nun immer auch ein Platz in einer allgemeinen Schule angeboten werden. Sie können sich aber auch weiterhin für spezielle Förderschulen entscheiden.

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Für die Kinder bedeutet der Besuch einer Förderschule oft Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe und beruflichen Möglichkeiten. Das Inklusionsgesetz soll dies verhindern. Mit der Schulrechtsänderung setzt die die rot-grüne Landesregierung die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen um, die Deutschland bereits 2009 ratifiziert hatte. Lange stritt das Land mit den Kommunen über die Finanzierung der Reform, die allein den Landeshaushalt für den Zeitraum 2012 bis 2017 mit rund einer Milliarde Euro belasten wird.

Obwohl kaum jemand gemeinsames Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung grundsätzlich infrage stellt, haben Förderlehrer aber durchaus Sorgen, wie ihre Schützlinge künftig in Regelschulen betreut werden. Zum Beispiel ein Kind wie der elfjährige Ganja. Auch er sitzt im Englischunterricht von Frau Drexelius. An diesem Morgen ist er schlecht drauf. «What’s your name?», fragt ihn ein Klassenkamerad. «Seh’ ich so aus, als ob ich antworten will?», patzt Ganja ihn an. Dann legt er seinen Kopf auf den Tisch. Drexelius lässt ihn gewähren.

«Gestern hat ein anderes Kind vor Wut einen Tisch in die Luft gehoben und gedroht, damit auf uns zu werfen», erzählt ihre Kollegin Silke Kurth. Situationen wie diese bekommen beide in der Regel schnell unter Kontrolle. Dafür wurden sie jahrelang ausgebildet.

Ganja ist ein Kind mit dem Förderbedarf «Lernen» – wie die meisten Förderkinder. Auch er könnte fortan eine Regelschule besuchen. Dort würde er dann «zieldifferent» unterrichtet. Das heißt, er würde einen anderen Schulabschluss machen als Kinder ohne Förderbedarf. Das Ettikett «Förderschule» würde ihm dann nicht mehr anhaften. Doch wie würden die Lehrer auf einer Regelschule mit seinem Verhalten umgehen – ohne sonderpädagogische Ausbildung und mit 25 weiteren Schülern, um die sie sich kümmern müssen? Was passiert, wenn ein Schüler auf einmal den Tisch hochhebt und droht, damit zu werfen?

Mancher Regelschullehrer, so sieht es Schulleiterin Reinhild Saal, könnte dann schnell an seine Grenzen stoßen. «Unsere Schulform lebt von der Beziehung zwischen Lehrern und den einzelnen Schülern», sagt sie. «Das ist häufig sehr kraftraubend und erfordert viel Aufmerksamkeit.» Saal fürchtet, dass auf einer allgemeinen Schule die Lehrerstellen zu knapp bemessen sind, um den Kindern und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Leidtragenden seien dann Förderschüler wie Ganja.

„Die sonderpädagogische Förderung der Kinder muss auf qualitativ hochwertigem Niveau garantiert werden, dafür sind exzellente Fortbildung und zusätzliche Unterstützung der Lehrkräfte unerlässlich“, fordert Dorothea Schäfer, Landeschefin der Lehrergewerkschaft GEW. Berichte aus den Schulen und vielfältige Klagen von Eltern und Lehrkräften belegten aber unzureichende Rahmenbedingungen und eine mangelnde Personalausstattung. Der Prozess laufe nicht reibungslos. „Wir benötigen für den Inklusionsprozess eine behutsame Umsetzung mit transparenter Steuerung und mehr Ressourcen“, so erklärte Schäfer auf einem Kongress im Mai.

Im NRW-Schulministerium hingegen hält man die zukünftige personelle Besetzung an den Regelschulen für eine gute Grundlage. Insgesamt sollen rund 3200 neue Lehrerstellen für inklusives Lernen zur Verfügung gestellt werden. Umfangreiche Weiterbildungsangebote würden den allgemeinen Lehrkräften das nötige Wissen vermitteln, um die neuen Herausforderungen zu meistern, versichert ein Sprecher.

Eine Doppelbesetzung mit jeweils einer allgemeinen und einer sonderpädagogischen Lehrkraft in den Klassen sei zwar möglich, jedoch nicht durchgängig in allen Unterrichtsstunden. «Dies ist weder finanzierbar, noch pädagogisch zwingend erforderlich», sagt er. Von Landesseite würden zudem keine Förderschulen abgeschafft oder geschlossen werden.

Der renommierte Bildungsforscher Klaus Klemm stimmt ihm zu: «Ich kenne kein Land, in dem eine durchgängige Doppelbesetzung in allen Klassen realisiert wird.» Zwar könne er die Forderung nach mehr Lehrkräften verstehen. «Für NRW ist es aber schon ein Kraftakt, überhaupt neue Lehrer für Sonderpädagogik zu finden.» Nachholbedarf sieht er hingegen in der sonderpädagogischen Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte. «Da hinken wir deutlich den Anforderungen hinterher.»

Im Englisch-Unterricht spricht Lehrerin Drexelius inzwischen über den biologischen Kreislauf der Frösche. «What is this?», ruft sie. «Eine Kaulquappe!», schallt es zurück. «In english, please!», mahnt die Lehrerin. «A tadpole!» Drexelius ist zufrieden. Die Kinder arbeiten aufmerksam mit. Nur Ganja schaut noch immer griesgrämig drein. Doch auf der Bonifatiusschule können sie damit umgehen. Matthias Arnold, dpa

Zum Bericht: Löhrmann zum Schulstart in NRW: Regelschulen werden die Inklusion meistern

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