MÜNCHEN. Die Inklusion führt offenbar immer mehr Lehrer an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit. Aktuelle Meldung aus Bayern: Immer häufiger wenden sich verzweifelte Pädagogen an seine Rechtsabteilung, so berichtet der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV). Mehrere Brandbriefe von Lehrerkollegien, die die Einbeziehung von behinderten Schülern in den Regelunterricht kaum bewerkstelligt bekommen, hatten zuvor bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.
Für viele Lehrkräfte und Schulleiter zähle die Inklusion zum größten beruflichen Belastungsfaktor, so heißt es aktuell in einer Erklärung des BLLV. Auch gut fünf Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention durch die Bayerische Staatsregierung (2006 vom Bundestag ratifiziert) erlebten viele Pädagogen, dass die Voraussetzungen für eine gelungene Umsetzung an ihren Schulen noch immer mangelhaft seien. „Die meisten fühlen sich mit der Aufgabe allein gelassen”, prangerte BLLV-Präsident Klaus Wenzel heute in München an. Die Tatsache, dass sich immer mehr Pädagogen an die Rechtsabteilung des BLLV wenden, wertete Wenzel als Indiz dafür, dass der Handlungsbedarf groß sei: „Lehrerinnen und Lehrer wollen Inklusion an ihrer Schule, aber sie wollen sie nicht zum Nulltarif.”
Die meisten Regelschulen seien noch immer weder personell noch räumlich auf Kinder mit Handicaps vorbereitet. Das führe im Schulalltag zu erheblichen Problemen. Die Ängste und Vorbehalte von Eltern und Lehrern seien deshalb unverändert groß. Versäumt worden sei bis heute auch, Inklusion in allen Phasen der Lehrerbildung zum Thema zu machen. „Eine erfolgreiche Inklusion ist ohne optimale Rahmenbedingungen nicht möglich – auch wenn die Staatsregierung das offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen will”, sagte Wenzel. Im kommenden Doppelhaushalt müssten daher deutlich mehr als 200 Stellen und Ressourcen für räumliche Verbesserungen eingeplant werden. Wenzel: „Die Lehrerinnen und Lehrer sind am Ende ihrer Kraft.”
Weiter meinte der BLLV-Chef: „Es gibt viele Beispiele im Freistaat, die zeigen: Schulen tun sich schwer, Inklusion so umzusetzen, dass alle Kinder davon profitieren. Vielmehr ist die tägliche Arbeit geprägt von Mängeln und Konflikten.“ Und: „Die Schüler spüren die zum Teil vergiftete Atmosphäre, Eltern verbittern, weil sie ihr Recht auf Inklusion nicht erfüllt sehen und auf Widerstände stoßen und Lehrer resignieren, weil sie die vielen Herausforderungen überfordern.” Die Ursache für den Verdruss liegt aus Sicht Wenzels an den immer noch „völlig unzureichenden organisatorischen und personellen Bedingungen.” Es mangele zudem an Fortbildungsprogrammen und an Angeboten zur Inklusion in der universitären Lehrerbildung.
„Für viele Lehrkräfte wäre es schon hilfreich, wenn sie besser auf die Herausforderungen vorbereitet wären”, so Wenzel. Sie wünschten sich deutlich kleinere Inklusionsklassen, bessere Möglichkeiten für Teamteaching, für Kooperationen mit Sonderpädagogen und für die Entwicklung von Förderplänen. Dringend benötigt würden auch geeignete fachliche und sachliche Lehr- und Lernmittel sowie individuelle Fördermaßnahmen. „Diese Forderungen sind nicht neu”, sagte der BLLV-Präsident. Und das sei das alarmierende – obwohl die Not seit Jahren groß sei und alle Beteiligten unter der Situation litten, habe sich nichts getan. Die Schulen blieben mit den Problemen allein.
Beispiel Medikamentenabgabe: Viele der betroffenen Kinder sind aus gesundheitlichen Gründen auf Medikamente angewiesen. „Das Kultusministerium erklärt, dass die Verabreichung von Medikamenten bei chronisch kranken Kindern oder bei Kindern, die hierzu nicht in der Lage sind, zu den Dienstpflichten einer Lehrkraft gehört”, erklärte der Leiter der BLLV-Rechtabteilung Hans-Peter Etter. An die Lehrkräfte werde appelliert, solche Maßnahmen auf freiwilliger Basis durchzuführen. Die Folge: „Immer wieder rufen Lehrerinnen und Lehrer bei uns an, um zu erfragen, ob solche Maßnahmen überhaupt verlangt werden dürften.” Viele fühlten sich überfordert, seien verunsichert oder gar verzweifelt. „Lehrerinnen und Lehrer sind keine medizinischen Hilfskräfte”, stellte Etter klar. Es sei skandalös, was das Kultusministerium ohne rechtliche Grundlage von ihnen verlange. Weder die gesetzliche Unfallversicherung noch die Diensthaftpflichtversicherung komme für eventuelle Fehler auf.
Trotz aller Schwierigkeiten sei die UN-Konvention bindend – sie hat in Deutschland Gesetzeskraft. In Artikel 24 ist von einem „integrativen Schulsystem“ die Rede. Das bedeute, alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf müssen in Regelschulen aufgenommen werden, wenn die Eltern dies wünschen, so Etter. Konflikte seien hier programmiert: „Eltern haben den verständlichen Wunsch, dass ihr behindertes Kind optimale Förderung bekommt. Viele sehen den Weg dorthin im Besuch einer Regelschule. Lehrerkräfte haben die berechtigte Sorge, angesichts der ohnehin schon mangelhaften Ausstattung ihrer Schulen, den Unterrichtsausfällen und dem Lehrermangel, den Anforderungen, die ein behindertes Kind an sie stellt, nicht gerecht werden zu können. Wir müssen leider auch zur Kenntnis nehmen, dass die Konflikte in einigen Fällen eskalieren und der Rechtsweg bestritten wird”, führte Etter aus.
Mit erfolgreicher Inklusion habe dies alles nichts zu tun, erklärten Etter und der BLLV-Präsident übereinstimmend. Deshalb dürfe keine Zeit mehr verloren gehen: „Die Politik muss endlich die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung schaffen.”
Dabei komme auch den Förderschulen eine zentrale Rolle zu, ergänzte Wenzel. „Auch sie müssen in die Lage versetzt werden, diese Prozesse effektiv zu begleiten und zu ergänzen.” Es dürfe nicht in erster Linie darum gehen, Förderzentren zu schließen und deren Personalkapazitäten zu kappen. Auch wenn sich immer mehr Eltern mit Kindern, die ein Handicap hätten, für die Inklusion in das Regelschulsystem entscheiden würden. „Förderzentren sind überall da sinnvoll, wo sie das Regelangebot hilfreich und nachhaltig unterstützen.” Wenzel verlangte daher auch, den Mobilen Sozialpädagogischen Dienst (MSD) zu stärken und auszubauen. “Mit dem kontinuierlichen Einsatz des MSD könnten inklusive Regelschulen sehr gut unterstützt werden.”
Mehrere Brandbriefe von Lehrerkollegien, die sich mit der Inklusion überfordert fühlen, hatten unlängst für Schlagzeilen gesorgt. Erst war es das Kollegium einer Gesamtschule aus dem hessischen Kassel, das sich aufgrund von unzureichenden Rahmenbedingungen an die Politik wandte. Dann wurden zwei weitere Fälle bekannt, in denen sich Schulen mit Hilferufen an ihre jeweiligen Bildungsbehörden wandten: In Berlin warnten Grundschulleiter eindringlich vor dem Scheitern der Inklusion. In Hamburg forderten Lehrer- und Elternschaft einer Stadtteilschule gemeinsam mehr Unterstützung. Tenor: immer mehr verhaltensauffällige Kinder und eine Lehrerschaft, die auf dem Zahnfleisch geht. News4teachers