BERLIN. Der Schulleiter des Emmy-Noether-Gymnasiums in Berlin-Köpenick muss sich aktuell einem Presseansturm stellen. Eine Musiklehrerin seiner Schule hat dort in ihrem Oberstufenunterricht das Horst-Wessel-Lied durchgenommen – das Kampflied der Nazis also. Ein Skandal? Die „Bild“-Zeitung und andere Medien jedenfalls haben einen daraus gemacht. Tatsächlich wird das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren, das gegen die Lehrerin eingeleitet wurde, wohl eingestellt.
Das Horst-Wessel-Lied ist seit 1945 in Deutschland und Österreich verboten. Es gilt als zweite Nationalhymne des nationalsozialistischen Regimes, denn es war zunächst Kampflied der SA und schließlich Parteilied der NSDAP; es wurde oft in Verbindung mit der ersten Strophe des Deutschlandliedes gesungen.
Was ist jetzt genau damit passiert? An die Schüler der Stufe 11 wurde zu Beginn des Unterrichts das Textblatt der verfassungswidrigen SA-Hymne verteilt. Musik und Text seien dann analysiert worden, berichtet die „taz“. Danach wurde angeblich marschiert oder zumindest mit dem Fuß dazu im Takt gewippt. Am darauffolgenden Tag ging bei der Staatsanwaltschaft Berlin eine anonyme Klage ein. Und „Bild“ titelte: „Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Berliner Pädagogin: Lehrerin lässt Schüler Horst-Wessel-Lied singen – und das an einer Schule, die nach einer jüdischen Mathematikerin benannt ist“.
Mehr noch: Eine ganze Medienkampagne brach los. Der „Berliner Kurier” erinnerte an den Film „Die Welle”, in dem einem Lehrer seine Klasse aus dem Ruder läuft, als er ihr den Faschismus anschaulich per Experiment vermitteln will. Das „Neue Deutschland” zweifelte öffentlich, ob die Schule im Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ weiter angehören solle. „Spiegel Online” beschrieb das gesamte Gymnasium deshalb als verdächtig, nur weil die Schule die betroffenen Schüler nicht namentlich nennen wollte (die minderjährig sind). „Stern-online“ textete: „Mehr als nur fragwürdige Lehrmethoden an einem Gymnasium in Berlin: Schüler mussten im Musikunterricht das verbotene ‚Horst-Wessel-Lied‘ singen und dazu marschieren.“ Der Fall schien klar zu sein – schließlich nahm sogar der Staatsschutz die Ermittlungen auf.
Und jetzt die Wende. Eine erste Überprüfung der Staatsanwaltschaft habe ergeben, dass der Pädagogin wohl doch kein strafbares Verhalten vorzuwerfen ist, sagte ein Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Offenbar brachten die genannten Medien verzerrende Darstellungen dessen, was im Unterricht passiert war. Auf dem Lehrplan des Musikunterrichts stand nämlich laut „Tagesspiegel“ der Kälbermarsch von Bertolt Brecht, der eine Parodie auf das Horst-Wessel-Lied darstellt – und die Pädagogin war der Ansicht, dass man sich zunächst mit dem Original befassen solle, um die Parodie überhaupt verstehen zu können. Außerdem, so berichtete die „taz“, seien die Schülerinnen und Schüler nicht zum Singen aufgefordert worden, sondern hätten lediglich mitgesummt und im Takt mit den Füßen gewippt. Die Lehrerin beruft sich dem Bericht zufolge auf den Rahmenlehrplan. Dort heißt es: „Die Schülerinnen und Schüler […] entwickeln ein Verständnis für die Funktionalisierung von Musik im Dienste politischer, religiöser und wirtschaftlicher Interessen.“ Die Schulleitung hat sich vor die Pädagogin gestellt. Das Horst-Wessel-Lied wurde also augenscheinlich im Unterrichtsrahmen „Politische Propaganda“ und „Manipulationsstrategien des Nationalsozialismus“ analysiert. Die Schülerinnen und Schüler des betroffenen Kurses, so erklärte der Schulleiter in einem Interview, hätten den Zusammenhang auch genau so verstanden.
„Ich habe Geschichte studiert, der Nationalsozialismus war eines meiner Schwerpunktthemen. Wie man sich intensiv mit den Nazis befassen kann, ohne Hitler gelesen und eine seiner Reden im Original gehört zu haben, ist mir ein Rätsel. Man wird dadurch nicht zum Nazi, man wird lediglich gebildeter“, schreibt denn auch jetzt der Autor Harald Martenstein im „Tagesspiegel“. Und kommentiert: „Mir fällt dazu ‚Der Club der toten Dichter‘ ein, in dem Robin Williams einen charismatischen Lehrer spielt. Er lässt seine Schüler auf dem Schulhof exerzieren, um ihnen etwas über Macht und über Anpassung beizubringen. Natürlich wird er von Dummköpfen angefeindet, die Schüler lieben ihn.“
Die „Bild“-Zeitung mag aber von ihrer Version der Geschichte nicht lassen. Aktuell lässt sie – zu einem Foto der kritisierten Lehrerin – einen einzelnen Schüler anonym zu Wort kommen, der von „der bizarrsten Unterrichtsstunde seiner Schulzeit“ berichtet. News4teachers