STUTTGART. Chaostage in Stuttgart: Die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg streitet sich um eine Reform des Gymnasiums. Widersprüchliches kommt dabei von Regierungschef Kretschmann. Gestern noch ließ er verlauten, an der Schulform werde nicht gerüttelt. Heute sagt er: Reformen müssten schon sein. Seine Begründung: „Wir wollen das Gymnasium stärken“.
Das Zukunftspapier «Gymnasium 2020» hat Zoff zwischen Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und den grün-roten Regierungsfraktionen ausgelöst. Der Regierungschef reagierte verärgert auf öffentlich geäußerte Kritik von Grünen und SPD im Landtag an der Ideensammlung zur Zukunft der 400 Gymnasien im Südwesten. «So geht’s wirklich nicht», sagte Kretschmann am Dienstag in Stuttgart. Bildungspolitiker von SPD und Grünen im Landtag hatten die Vorschläge eines vom Kultusministerium eingesetzten Arbeitskreises abgelehnt. «Innerhalb der Landesregierung liegen anscheinend die Nerven blank», kommentierte CDU-Fraktionschef Guido Wolf.
Kretschmann argumentierte, keine Regierung könne darauf verzichten, Arbeitsgruppen und Kommissionen zu Rate zu ziehen. «Wie soll sonst Innovation entstehen?» Auch die Lehrergewerkschaft GEW rief zu einer sachlichen Debatte auf. «Die vielen Tausend Mitglieder an den Gymnasien erwarten eine Weiterentwicklung ihrer Schulart», betonte Landeschefin Doro Moritz.
Kultusminister Andreas Stoch (SPD) rechtfertigte seinem Umgang mit den Anregungen des Arbeitskreises, die ihm seit Frühsommer 2014 vorliegen. Sie müssten nach Dringlichkeit sortiert und vor allem bei Bedarf an zusätzlichen Ressourcen mit dem Finanzressort diskutiert werden. Dann erst sei mit einer Entscheidung des Regierung zu rechnen.
Er könne sich nicht im «stillen Kämmerlein» einschließen und seine Referenten Papiere erstellen lassen, sagte Stoch. Externer Sachverstand sei unverzichtbar. Der Arbeitskreis besteht aus Vertretern von Eltern, Schülern, Direktoren und des Landesschulbeirates. Stoch stellte mit Blick auf die Kritik der Opposition an den Vorschlägen klar: «Ich kann allen sagen, die grün-rote Landesregierung hat weder vor, das Gymnasium abzuschaffen, noch es zu schwächen, noch etwas an den Leistungsanforderungen zu verändern.»
Kretschmann warnte vor dem Festhalten am Status quo. Auf das Gymnasium wechseln mehr als 40 Prozent der Grundschüler. Dass sich das Gymnasium als beliebteste Schulart weiterentwickeln müsse, sei unbestreitbar. Ergebnisse von Expertenzirkeln würden ohnehin nicht eins zu eins umgesetzt. «Sonst bräuchte es uns ja nicht», sagte der Regierungschef. Die letzte Entscheidung über das Gymnasium der Zukunft liege bei der Politik. Kretschmann bekräftigte: «Wir wollen das Gymnasium stärken.» Er fügte hinzu: «Das deutsche Bildungsbürgertum liebt nun mal sein Gymnasium, und wir teilen diese Liebe.»
Oppositionspolitiker sehen in dem Papier des Gremiums, das noch von der ehemaligen Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD) eingesetzt wurde, eine Schwächung des Gymnasiums. Die FDP-Fraktion nimmt Kretschmanns Bekenntnis zum Gymnasium nicht ernst. Es komme nicht von Herzen, sondern entspringe rein taktischem Kalkül. Er fürchte offenbar, bei einem offenen Angriff auf das Gymnasium von den Bürgern abgestraft zu werden, sagte Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke.
Amtsinhaber Stoch warnte vor «Schwarz-Weiß-Denken». Er selbst sehe sowohl interessante als auch nicht realisierbare Punkte in dem Papier. So gebe es Handlungsbedarf bei dem von den G8-Schülern empfundenen Schulstress. Dieser könne durch ein Coaching-System, wie es der Arbeitskreis vorschlägt, abgemildert werden. Dabei besprechen Beratungslehrer mit den Schülern Lernziele und -schritte. Allerdings würden für diese Maßnahme laut Arbeitskreis zusätzlich 456 Lehrerstellen benötigt.
Als schwierig erachtet Stoch dagegen Zugeständnisse bei den Fremdsprachen, die das Papier vorsieht, um Gemeinschafts- und Realschülern den Übergang auf das allgemeinbildende Gymnasium zu erleichtern. In diesem Punkt befürchte er eine Debatte über eine drohende Leistungsabsenkung, wie sie etwa der Philologenverband bereits vom Zaun gebrochen hat. Solche strukturellen Eingriffe seien nicht sinnvoll, betonte der Minister. dpa
Zum Bericht: Basta vom Chef – Kretschmann bremst Stoch beim «Gymnasium 2020» aus