BERLIN. Hakt es bei der Inklusion am Willen von Lehrern an Regelschulen, behinderte Schüler zu unterrichten? Nachdem vor zwei Wochen der VBE eine Umfrage veröffentlicht hatte, wonach bundesweit die Mehrzahl der Pädagogen die Rahmenbedingungen für den gemeinsamen Unterricht kritisiert, zeigen sich Inklusionsbefürworter zunehmend gereizt gegenüber der Lehrerschaft. „Die meisten Lehrer haben einfach keine Lust, Schüler mit Behinderung in ihre Klassen aufzunehmen”, heißt es etwa in einer aktuellen Pressemitteilung des Elternvereins „Mittendrin“.
Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag habe sich zu wenig in den Schulen getan, so kritisiert Eva-Maria Thoms, Sprecherin der vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Aktion Mensch unterstützten Initiative. „Eigentlich sollten sechs Jahre reichen, um sich auf das gemeinsame Lernen vorzubereiten”, sagte sie gegenüber der WAZ. Viele Schulen hätten die Entwicklung jedoch verschlafen – und bis zum letzten Moment gewartet, so dass sich nun „abenteuerliche Szenarien abspielen“. Teilweise herrsche „großes Chaos“, meint die Inklusionsaktivistin. Es stimme schon, auch die Rahmenbedingungen seien schwierig, so räumte sie gegenüber der „Rheinischen Post“ ein. „Die Ausstattung mit Sonderpädagogen ist zweifellos zu knapp“, meint sie – vor allem, weil „viele Sonderpädagogen nach wie vor in den Förderschulen arbeiten“. Es gehe aber nicht nur um Ausstattung. Thoms: „Offenbar fehlt es vielen Lehrern noch immer an der Motivation, sich auf die Inklusion einzulassen, und das, obwohl die inklusive Bildung inzwischen geltendes Recht ist.“
Kirsten Ehrhardt, Mutter des zwölfjährigen Henri, der mit Down-Syndrom aufs Gymnasium sollte, und Buchautorin („Henri. Ein kleiner Junge verändert die Welt“, Heyne, 8,99 Euro) schlägt in die gleiche Kerbe. Angesichts der VBE-Umfrage, wodurch sich die allermeisten Lehrer von der Inklusion überfordert fühlen und fehlende sonderpädagogische Kompetenzen beklagen, sagt sie in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Ich habe auch keine sonderpädagogischen Fortbildungen und muss mich trotzdem jeden Tag um mein Kind kümmern. Die Jobs in fast allen Lebensbereichen haben sich doch in den vergangenen Jahren brutal verändert und ich finde, dass sich auch alle auf veränderte Arbeitsbedingungen einstellen müssen. Das erwarte ich. Die Lehrer können Fortbildungen und gute Bedingungen fordern. Aber sich total zu verweigern, kann man doch in anderen Berufen auch nicht.“
Grenzen der Inklusion sieht Ehrhardt nicht. „Nein, andere Länder wie Italien, Kanada, Finnland zeigen, dass selbst eine Beschulung im Krankenbett im Klassenzimmer funktioniert. Es kann auch mal Pflegepersonal mit dabei sein. Warum denn nicht? Alle Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit Behinderungen die anderen Kinder in ihrem Lernerfolg nicht behindern. Und dass inklusive Klassen überwiegend starke sind, weil sich dort das Lernen und der Umgang miteinander verändert hat.“ Auch den Einwand von Lehrerverbänden, dass für inklusive Klassen grundsätzlich eine Besetzung von zwei Lehrern notwendig sei – was Kosten verursache –, mag sie nicht stehenlassen. Ehrhardt: „So lange mit den Regelschulen und Förderschulen zwei Systeme existieren, sind hier Milliarden Euro gebunden. Also sollten wir uns Schritt für Schritt von dem Sondersystem trennen – und das Geld in ein wirklich inklusives System umschichten. Wie uns Experten vorgerechnet haben, mag das in einer Übergangsphase teurer sein, später aber nicht.“ News4teachers
