MÜNCHEN. Mit Blick auf die bevorstehenden Zeugnisse – und den immer wieder erhobenen Vorwurf der Subjektivität – hat Hans-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, eine Lanze für die Noten gebrochen. „Ich kenne kein System, das so praktikabel und transparent funktioniert wie Noten, obwohl ich mich seit Jahren auch mit den Alternativen beschäftige”, sagte Meidinger gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Auch das ebenfalls umstrittene Sitzenbleiben sei ein vernünftiges pädagogisches Instrument.
Bildungsforscher waren in der Vergangenheit in puncto Noten zu anderen Ergebnissen gekommen. Wissenschaftler der Universität Potsdam, der Universität Tübingen und der Universität Freiburg in der Schweiz hatten beispielsweise 2011 im Auftrag der Vodafone Stiftung erhoben, inwieweit der soziale Hintergrund eines Schülers bei der Notenvergabe eine Rolle spielt. Ihr Ergebnis: eine recht große. Kinder aus bildungsfernen Schichten hätten – auch bei gleicher Leistung – durchschnittlich schlechtere Noten als Kinder aus Akademikerfamilien. Das könne sowohl in der Grundschule als auch am Ende der gymnasialen Oberstufe nachgewiesen werden, hieß es seinerzeit.
Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, ob andere Bewertungsformen, etwa Berichtszeugnisse, eine gerechtere Leistungsbeurteilung mit sich bringen. Trotzdem sehen sich Bildungspolitiker immer wieder zum Handeln genötigt – zuletzt in Schleswig-Holstein, wo die Grundschulen auf Drängen des SPD-geführten Schulministeriums komplett auf Noten verzichten und auf so genannte Kompetenzraster umstellen sollten. Tatsächlich passierte recht wenig: Mehr als 90 Prozent der Primarschulen nutzen die Hintertür, die ihnen das Ministerium dann doch offengelassen hatte, um Notenzeugnisse zu behalten – nämlich ein formaler Beschluss der Schulkonferenz sowie ein entsprechendes Mehrheitsvotum der Lehrerschaft. Eine recht hohe Hürde also.
„Die meisten Schüler haben ein gesundes Verhältnis zu Noten – realistischer als mancher Politiker, Experte oder Erziehungsberechtigter“, meint nun Philologen-Chef Meidinger. Und gerecht sei das System auch. „Dass ein Schüler ein Zeugnis erhält, das insgesamt nicht seinen Leistungen entspricht, ist kaum vorstellbar.“ Die Zensuren seien „so aussagekräftig wie nur möglich” und „über die Summe hinweg sicherlich gerecht”. Noten müssten allerdings „pädagogisch vermittelt werden, ein Lehrer muss sich mit dem Schüler hinsetzen und erläutern, wie er sich verbessern kann. Eine hingeklatschte Fünf ist nicht hilfreich. Eine Benotung, die Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigt und klarmacht, dass jemand nicht als Fünferkandidat abgestempelt ist, dagegen schon”.
Der Philologen-Chef, selbst Schulleiter eines bayerischen Gymnasiums, warnte davor, auf Noten zu verzichten. „Die Bewertung ist nicht der Kern von Schule, aber gehört dazu. Wenn es nicht die Schule tut, dann tun es andere; und dann greifen knallharte Mechanismen, wenn es um die Zukunft der jungen Leute geht und um Chancen: klassischer gesellschaftlicher Konkurrenzkampf. Mit gerechter Bewertung und Pädagogik hat das nichts mehr zu tun”, sagte Meidinger gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Wenn Schule sich aus der Leistungsbewertung zurückziehe, „werden wieder alte Muster greifen, wenn es zum Beispiel um eine Stelle geht – das Elternhaus mit seinem Status, mit sozialem Kapital wie Manieren und Kontakten, auch echtes Kapital, das in teure Sprachreisen fließen könnte”.
Meidinger rügte auch die zunehmende Abschaffung des Sitzenbleibens, wie es etwa das Land Niedersachsen perspektivisch plant. Eine Klassenwiederholung sei „keine Strafmaßnahme, sondern ein pädagogisches Mittel. Wenn ein Schüler trotz oft zusätzlicher Förderung das Klassenziel in gleich mehreren Fächern nicht schafft, braucht er Hilfe. Etwa die Chance, den Stoff in Ruhe aufzuholen”. News4teachers