BERLIN. Fast sechs Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland noch weit von einem inklusiven Bildungssystem entfernt – vor allem bei den weiterführenden Schulen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Aktueller Nachtrag: Die Reaktionen auf die Studie fallen heftig aus.
Klaus Klemm, emeritierter Professor der Universität Duisburg-Essen hat die Daten im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erhoben. Danach ist der Inklusionsanteil seit Dezember 2009, als die UN-Behindertenkonvention vom Bundestag angenommen wurde, bundesweit stetig gestiegen. „Fast jedes dritte Kind mit Förderbedarf besucht mittlerweile eine Regelschule (31,4 Prozent). Das ist ein Anstieg um 71 Prozent gegenüber dem Schuljahr 2008/09 (18,4 Prozent)“, so heißt es in der Studie unter Berufung auf Daten aus dem Schuljahr 2013/2014. „Trotz der Fortschritte ist die Situation an deutschen Schulen für Kinder und Jugendliche mit Handicap noch unbefriedigend. Der Schüleranteil an Förderschulen geht kaum zurück und von bundesweit vergleichbaren Chancen auf Teilhabe an Inklusion kann noch keine Rede sein.“
Vor allem in der Sekundarstufe bleibe Inklusion weiterhin eine Ausnahme. „Unverändert gilt in Deutschland: Je höher die Bildungsstufe, desto geringer sind die Chancen auf Inklusion. Gemeinsames Lernen und Spielen ist in Kitas bereits weit verbreitet. Auch die Grundschulen nehmen immer mehr Förderschüler auf. Doch sobald Kinder mit und ohne Handicap eine weiterführende Schule besuchen, müssen sie in der Regel getrennt lernen. Während der Inklusionsanteil in deutschen Kitas 67 Prozent (2008/09: 61,5 Prozent) und in den Grundschulen 46,9 Prozent (2008/09: 33,6 Prozent) beträgt, fällt er in der Sekundarstufe auf 29,9 Prozent (2008/09: 14,9 Prozent)“, so wird berichtet.
Besonders auffällig sei: Von den knapp 71.400 Förderschülern in den Schulen der Sekundarstufe lerne nur jeder Zehnte an Realschulen oder Gymnasien. Inklusion finde hauptsächlich an Hauptschulen und Gesamtschulen statt. Auch in der Ausbildung ist Inklusion noch die Ausnahme. Mehr noch: Die „Exklusionsquote“, also der Anteil von Förderschülern, gehe nur leicht zurück – nämlich von 4,9 im Schuljahr 2008/2009 auf 4,7 Prozent 2013/2014 Dies sei darauf zurückzuführen, dass bei immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt werde. „Zwischen den Schuljahren 2008/2009 und 2013/2014 ist diese Quote von 6,0 auf 6,8 Prozent (und damit um 13 Prozent) gewachsen. Warum bei immer mehr Schülern in Deutschland ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird, liegt auf der Hand: Der Status ist mit Förderressourcen verbunden, die für Schulen und Eltern gleichermaßen attraktiv sind.
Darüber hinaus stellt die Studie fest, dass Deutschland in Sachen Inklusion einem Flickenteppich gleicht: Während in den Stadtstaaten Bremen (Inklusionsanteil: 68,5 Prozent), Hamburg (59,1 Prozent) und Berlin (54,5 Prozent) oder in Schleswig-Holstein (60,5 Prozent) die Mehrheit der Förderschüler an Regelschulen lernt, sind es in Hessen (21,5 Prozent) und Niedersachsen (23,3 Prozent) weniger als ein Viertel.
Auch der Anteil der Schüler, die separiert an Förderschulen unterrichtet werden, unterscheidet sich laut Studie erheblich. Die Spannweite liegt hier zwischen Exklusionsquoten von 6,8 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt bis zu 1,9 Prozent in Bremen. Nicht zuletzt wichen die Förderquoten in Folge unterschiedlicher Diagnosestandards auf Landesebene stark voneinander ab. Die höchste Förderquote in Mecklenburg-Vorpommern ist mit 10,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Niedersachsen (5,3 Prozent) oder Rheinland-Pfalz (5,4 Prozent). Auch bei den Abschlüssen von Förderschülern seien bundesweit große Unterschiede erkennbar: Während in Thüringen „nur“ 54,7 Prozent die Förderschulen ohne Hauptschulabschluss verlassen, sind es in Brandenburg 86,2 Prozent. News4teachers