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Gastbeitrag: Hausaufgaben – Darum sind sie nur ein leeres pädagogisches Ritual

KÖLN. Wie lernt man in der Schule gut und richtig? Durch Anschauung und Ausprobieren – und durch Hausaufgaben. So denken viele Eltern, Lehrer und Schüler. Das Problem: Es stimmt nicht. Studien haben immer wieder gezeigt: Der pädagogische Effekt der Hausaufgaben ist gleich Null.

„Hausaufgaben: Ein ‚pädagogisches Ritual‘ überlebt“ – so überschrieb im November 2013 die Neue Zürcher Zeitung einen Artikel über die Aufgaben, die von Lehrerinnen und Lehrern seit Jahrhunderten aus der Schule heraus ins heimische Umfeld der Kinder und Jugendlichen delegiert werden. Der Text zitiert unter anderem den Kinderheilkundler und Autor von Erziehungsratgebern, Remo Largo: „Sie bringen gar nichts. Schüler und Eltern werden damit nur schikaniert“. Und für Gabriel Romano vom Institut Vorschulstufe und Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern sind Hausaufgaben nur ein „pädagogisches Ritual“ ohne tieferen unterrichtlichen Sinn. Warum aber, fragt man sich bei solchen Befunden, gehören die Hausaufgaben dann trotzdem flächendeckend zum Alltag von Familien mit schulpflichtigen Kindern? Warum zeigen sich Lehrer, Eltern und sogar Schüler mehrheitlich davon überzeugt, dass Hausaufgaben ein elementarer Bestandteil schulischer Lernprozesse sein müssen? Woher kommt der tiefe, fast schon religiös anmutende Glaube an ein pädagogisches Instrument, dessen Wirksamkeit nie wirklich nachgewiesen wurde?

Es gibt viele Gründe, die gegen Hausaufgaben sprechen. Foto: Wikimedia/woodleywonderworks CC BY 2.0

Denn obwohl die meisten Beteiligten sie befürworten, sind doch ihre Erfahrungen mit den Hausaufgaben mehrheitlich kritisch bis negativ: Vielen Lehrerinnen und Lehrern rauben die Aufgaben – ihre Bekanntgabe, vor allem aber die mühsame Kontrolle – wertvolle Unterrichtszeit. Den Schülern vergällen sie die Zeit nach Ende des Unterrichts. Und die Eltern werden durch Hausaufgaben gezwungen, schulische Vermittlungsaufgaben zu übernehmen, und lassen sich nicht selten durch die Aufgaben mehr unter Druck setzen als ihre Kinder. Kurz: Hausaufgaben stiften Unzufriedenheit und sind für alle Beteiligten ein erheblicher Stressfaktor. Sie sind allerdings auch seit Urzeiten im Schulsystem verankert, gehören zur Tradition des Unterrichts. Und im Hinterkopf spukt die Vorstellung herum, dass ein Mehr an Lernzeit doch auch irgendwie zu einem Mehr an Leistung führen müsse. Nur: Belegt ist das nicht. Im Gegenteil.

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Wissenschaftliche Befunde

Der Versuch war revolutionär, der Widerstand zu erwarten. Vier Monate lang ließ der Mül-heimer Erziehungswissenschaftler Bernhard Wittmann Schüler aus dritten und sechsten Klassen in Duisburg in zwei Fächern keine Hausaufgaben machen. Die eine Hälfte bekam das Hausaufgabenverbot in Mathematik, die andere im Fach Deutsch bei Aufgaben zur Rechtschreibung. Kein Wunder, dass sich während des Versuchs immer mal wieder besorgte Eltern bei den Klassenlehrern meldeten: Ob es denn wirklich sein könne, dass die Kinder schon seit Wochen keine Matheaufgaben mehr bekommen hätten? Wittmann wollte mit seinem Versuch und den sich anschließenden Leistungstests überprüfen, wie viele Fortschritte Hausaufgaben beim Lernen tatsächlich bringen. Und er kam, nach Auswertung der Testaufgaben, zu einem eindeutigen Resultat: „Hausaufgaben besitzen keinen materialen Bildungswert“, stellte der Pädagoge fest, „Hausaufgaben bewirken keinen Zuwachs an Kenntnissen und Fertigkeiten bei den Schülern.” Das war 1958, vor über einem halben Jahrhundert. Erst 1964 konnte Bernhard Wittmann seine Ergebnisse veröffentlichen – und es passierte: nichts. Eine Erfahrung, die der Pädagoge mit anderen Forscherinnen und Forschern teilte, die sich dem Leistungsgewinn durch Hausaufgaben befasst haben und genau diesen nicht feststellen konnten: Ihre Arbeiten wurden zwar mit Interesse gelesen, führten aber zu keinerlei Veränderungen im Schulalltag.

Erste Untersuchungen in diese Richtung hatte es bereits lange vorher gegeben. So stellte etwa der Experimentalpsychologe Ernst Meumann 1904 fest, dass die Leistungen von Schülern, wenn sie sie im Rahmen der Hausaufgaben erbrachten, „nach der materialen und formalen Seite im Durchschnitt beträchtlich minderwertiger“ waren als die Lösungen, die die Kinder in der Schule während des Unterrichts erarbeitet hatten. Der Pädagoge Gustav Schanze forderte 1907, dass die Hausaufgaben „aus den unmethodischen Händen der häuslichen Berater in die methodische Hand des Lehrers“ übergehen müssten. Und so geht es weiter – bis in die neuere Zeit: Hans Gängler, Erziehungswissenschaftler an der TU Dresden, stellte 2008/ 2010 fest, dass es überhaupt nicht darauf ankomme, ob man die Mathe-Hausaufgaben direkt nach der Schule, nachts unter der Bettdecke oder überhaupt nicht macht – der Effekt auf die Zeugniszensur ist „gleich null“. Dennoch würden Hausaufgaben von Lehrern unkritisch und flächendeckend „verordnet“ in der bloßen Annahme, „sie würden schon irgendeinen positiven Effekt auf die Schüler haben“. Gängler weiter: „Gute Schüler werden durch Hausaufgaben nicht unbedingt noch besser, und schlechte Schüler begreifen zu Hause durch bloßes Wiederholen noch lange nicht, was sie schon am Vormittag nicht richtig verstanden haben.“ Und zuletzt hatte 2013 die Soziologin Jutta Allmendinger von Wissenschaftszentrum Berlin darauf hingewiesen, dass Hausaufgaben die soziale Ungleichheit in Bildungsprozessen verstärken: Gute Schüler, die sie am wenigsten benötigen, bekommen zuhause die größte Unterstützung; bei denjenigen aber, bei denen zusätzliches Lernen und entsprechende Hilfe möglicherweise tatsächlich etwas bringen würden, fehlt häufig das fördernde häusliche Umfeld.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Angesichts der zahlreichen Untersuchungen ist es mehr als erstaunlich, dass Hausaufgaben allenfalls in Pilotprojekten oder an einzelnen Schulen abgeschafft wurden, dass sich jedoch im deutschsprachigen Raum keine Schulbehörde zum Abschied von diesem unsinnigen Instrument durchringen konnte. Mit einer Ausnahme: 1993 wurde im schweizerischen Kanton Schwyz, auch unter dem Eindruck immer neuer hausaufgabenkritischer Studien, vom Bildungsdepartment der Beschluss zum Ausstieg gefasst. Die Lerninhalte der Aufgaben, so die Vorgaben der Schulpolitik, seien fortan in die Unterrichtszeit zu integrieren; die Wochenstundenzahl für die Kinder wurde dafür um eine Stunde erhöht. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler jubelten über die freie Zeit zu Hause, auch die Erziehungswissenschaftler und Schulforscher waren von der Abschaffung angetan – hofften sie doch, nunmehr erstmals auf breiter Basis zeigen zu können, wie stark sich die Schul- und Lernleistungen von Kindern mit und ohne Hausaufgaben tatsächlich unterscheiden. Erste Ergebnisse deuteten schnell auf positive Folgen der Abschaffung hin. Doch die Reformer hatten einen Faktor unterschätzt: das Beharrungsvermögen einer überwiegend bildungskonservativ eingestellten Öffentlichkeit und Elternschaft. Der Druck durch kritische Medienberichte, Leserbriefe, Wortmeldungen in Gremien und Eingaben von Eltern wurde so groß, dass die Verantwortlichen 1997, nach nur vier Jahren, eine Kehrtwende hinlegten und die Hausaufgaben im Kanton wieder einführten. Und das, obwohl die Begleitforschung von Tina Hascher und Franziska Bischof (2000) zeigen sollte, dass es zu keinerlei Leistungseinbrüchen bei den Kindern ohne Hausaufgaben kam und deren Motivation sogar noch gesteigert wurde.

Derzeit aber öffnet sich gerade ein Zeitfester, in dem die Hausaufgaben noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden können: Durch die flächendeckende Einführung der Ganztagsschule im deutschsprachigen Raum müssen Rhythmus und Struktur des Schulalltags ohnehin völlig neu konzipiert werden. Und es gab, zumindest zu Beginn der Ganztagsschuldebatte, auch einmal das politische Versprechen, dass es im Ganztag keine Hausaufgaben mehr geben solle. Ein Versprechen, das jetzt eingelöst werden muss: Es besteht die Chance, das Lernen wieder in den schulischen Kontext zurückzuholen und es damit unabhängiger zu machen vom Einfluss eines zufälligen Settings zuhause. Die Abschaffung der Hausaufgaben wäre damit auch ein Schritt hin zu mehr Chancengerechtigkeit. Eine hausaufgabenfreie Schule ist möglich! Armin Himmelrath
Der Autor
Armin Himmelrath, Jahrgang 1967, ist Bildungs- und Wissenschaftsjournalist und hat zusätzlich zu seiner eigenen Schulzeit bisher insgesamt 32 Jahre Hausaufgabenerfahrung als Vater sammeln können. Im hep-verlag ist gerade sein Buch „Hausaufgaben – nein danke!“ erschienen.

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