Richard David Precht fordert eine Revolution für das deutsche Bildungssystem. Der Philosoph und Bestsellerautor bemängelt, dass Schüler nicht das lernen, was sie für die Zukunft brauchen. Diesen Ansatz vertritt er auch als Referent auf dem Deutschen Schulleiterkongress (DSLK).
DÜSSELDORF. Drei Systemfehler macht Precht im jetzigen Bildungssystem aus: die Selektion, das uniforme Lernen mit Fächern und die Benotung von Leistung mit Hilfe von Ziffern. „Für alle der gleiche Stoff und die gleiche Notenskala, das ist Quatsch“, kritisiert er – und stellt sich nun mit seinen Thesen mutig vors Auditorium beim Deutschen Schulleiterkongress. Das Bildungssystem müsse fundamental umgebaut werden, um auf die Herausforderungen der Zukunft zu reagieren. In seinem Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ spricht der Bestsellerautor sogar von einer benötigten Bildungsrevolution.
Verquerer Vergleich
Precht, der eine nach ihm benannte Philosophie-Sendung im ZDF moderierte, reklamiert für seinen Ansatz neue wissenschaftliche Erkenntnisse. „Nach all dem, was wir aus der Hirnforschung, der Entwicklungs- und der Lernpsychologie wissen, kann man von einem ‚gehirngerechteren Lernen‘ ausgehen und im Gegensatz dazu von einem, das den Spielregeln des nachhaltigen Lernens widerspricht“, so schreibt er. Und zieht einen verqueren Vergleich: „Gutes Lernen, so könnte man sagen, ist wie guter Sex: Nicht auf Tempo und Frequenz kommt es an, sondern auf die Eindringlichkeit, die individuelle Variation und den nachhaltigen positiven Effekt auf unsere Psyche. Der Vergleich ist schon deshalb nicht weit hergeholt, weil es sich bei allen Erregungen unseres Gemüts immer um das gleiche Belohnungszentrum handelt, das jedes Mal (mit leichten Unterschieden in den chemischen Cocktails) aktiviert wird.“
Motivation fördern
Eine Schule, „in der man so lernt, dass man statt loser Brocken und toter Phrasen Zusammenhänge behält“, sei möglich, meint der Philosoph. Ein höheres Bildungsniveau könne erreicht werden, wenn die Schulen aufhörten, die „intrinsische Motivation des Kindes zu zerstören“, sondern sie pflegten und förderten. Dabei sollten sie die Kinder individuell lernen lassen. „Eine gute Schule muss sich nach den Bedürfnissen, den Begabungen und dem Lerntempo eines jungen Menschen richten und ihn dazu befähigen, dieses Tempo selbst zu steuern“, schreibt Precht. Um im Gelehrtendeutsch fortzufahren: „Wenn der Lehrer dazu als Coach Hilfestellungen leistet und allzu viele verlockende Ablenkungen unterbindet, ist einem optimalen aufbauenden Lernen keine Grenze gesetzt. Desgleichen gilt für die wechselseitige Hilfe und den Ansporn durch Mitschüler im jahrgangsübergreifenden Unterricht.“
Fächer weg, Klassen weg
Precht, der einen Sohn und drei Stiefkinder hat, fordert die Abschaffung der klassischen Fächer. „Die Demarkationsgrenzen zwischen den Fächern hemmen den Erkenntnisgewinn und zügeln die Neugier“, meint er. Aus seiner Sicht besser: Projektunterricht, der die Zusammenhänge erkennen lasse. Auch die Klassen möchte der Philosoph spätestens ab der siebten Klasse aufgelöst sehen: „Wichtiger als das gleiche Alter sind ähnliche Interessen, die sich zu Lernteams organisieren lassen.“ Auch Noten möchte Precht streichen: „Es ist höchste Zeit, die Notenzeugnisse zu ersetzen. An ihre Stelle sollte ein sorgsames, auf die Individualität des Kindes bezogenes Monitoring treten. Statt Zensuren zu vergeben, sollten Lehrer schriftliche Beurteilungen verfassen über den Lern- und Entwicklungsweg ihrer Schüler, über ihr Können und ihre Persönlichkeit.“
Dafür fordert Precht flächendeckend die Ganztagsschule bis 16 Uhr. Rituale und Schuluniformen sollen darüber hinaus die Identifikation der Schüler mit ihrer Schule verstärken. Dabei lässt Precht erkennen, woher er seine Ideen schöpft: „Ein bisschen Hogwarts tut jeder Schule gut“, schreibt er mit Blick auf das in den Harry-Potter-Romanen dargestellte Schulleben.
Kritik: „Noch ein Eiferer“
Mit seinen Thesen hat Precht prominente Kritiker auf den Plan gerufen. „Noch ein Eiferer. Einer, der alles besser weiß“, kritisierte etwa der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD). Die in Prechts Buch geforderte „Bildungsrevolution“ provoziere, so Rabe, „bürgerkriegsähnliche Zustände, Milliardenkosten und Millionen verkorkster Bildungskarrieren. Denn in den zu erwartenden Schulkriegen wird eine ganze Schülergeneration jahrelang nicht richtig lernen.“ Deutschlands Schulen ließen sich, so Rabe, nicht „unfallfrei“ revolutionieren. „Jede Veränderung findet am offenen Herzen in vollem Betrieb statt.“
Auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) kann mit Prechts Thesen offenbar nicht viel anfangen. Sie hob kurz nach Erscheinen von Prechts Buch die Bedeutung von Noten, Leistung und Sitzenbleiben hervor – allerdings ohne ihn zu nennen. News4teachers
Zur Info: Precht beim Deutschen Schulleiterkongress
Richard David Precht stellt sich beim Deutschen Schulleiterkongress (DSLK) den Fragen eines Fachpublikums. Der Bestsellerautor diskutiert auf dem Bildungspodium über Theorie und Praxis der Inklusion und erörtert zusammen mit Pädagogen, Politikern und Journalisten die Frage: Eine Schule für alle – kann das überhaupt klappen? Der DSLK findet vom 3. bis 5. März im Kongresszentrum CCD Süd an der Stockumer Kirchstraße in Düsseldorf statt. Weitere Infos gibt es unter: www.deutscher-schulleiterkongress.de