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Menschenrechts-Beauftragter kritisiert die Entwicklung der Inklusion in Deutschland als „klar konventionswidrig“

BERLIN. Kritik aus seinem Mund zur Inklusion in den Schulen hat Gewicht: Valentin Aichele leitet die unabhängige Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Und als Chef der Einrichtung ist er vom Bundestag beauftragt, den Reformprozess in Deutschland zu beobachten – und den Vereinten Nationen (UN) darüber Bericht zu erstatten. Wir sprachen mit dem Juristen und Menschenrechtsexperten.

BU: Sieht die Entwicklung der Inklusion in Deutschland kritisch: Valentin Aichele, Leiter der unabhängigen Monitoring-Stelle. Foto: Deutsches Institut für Menschenrechte

News4teachers: Haben Sie Verständnis dafür, dass Schulen sich durch die Inklusion überlastet fühlen?

Aichele: Ja, denn vielerorts fehlen gute Rahmenbedingungen und teilweise auch die Erfahrung. Die Grundschulen, aber auch immer mehr weiterführende Schulen, brauchen bessere Bedingungen. Wir betrachten mit Sorge, dass Inklusion wegen politischer Fehlorganisation gefährdet wird. Besonders problematisch sind allerdings die Länder, die den Auftrag der Inklusion für sich immer noch nicht angenommen haben und nach wie vor auf schulische Segregation setzen. Im Bundesdurchschnitt haben wir heute mehr Exklusion als 2009, und diese Entwicklung ist klar konventionswidrig.

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News4teachers: Welche Kinder bedürfen künftig auch weiterhin einer Sonderförderung?

Aichele: Alle Kinder sind förderbedürftig und haben ein Recht darauf. Besondere und das heißt individuelle Förderung in einem inklusiven System findet in der allgemeinen Schule statt. Ist dort die Förderung gut gemacht, sind Sondereinrichtungen hinfällig. Sonderpädagogische Förderung muss demnach von Sondereinrichtung in die allgemeinen Schulen verlagert werden, einschließlich des Personals und der Ressourcen. Die inklusive Schule sieht also ganz anders aus als die Schule, wie wir sie heute kennen.

News4teachers: Wo sind denn die Grenzen der Inklusion?

Aichele: Vor kurzem habe ich gelesen, dass ein Kind mit Behinderung, das in der Regelschule gemobbt werde, in die Sonderschule müsse, da sein Kindeswohl auf dem Spiel stehe. Kann das richtig sein? Ist es nicht verkehrte Welt, wenn diejenigen, die mobben, bleiben und schwächere Mitschüler verdrängen dürfen? In jeder Schule muss es Schutzräume geben, für alle Kinder. Inklusion gelingt, wenn solche Konflikte nicht vorfallen oder anders bearbeitet werden.

News4teachers: Sie fordern eine sehr weitgehende Inklusion, lehnen also zum Beispiel Sonderklassen ab. Woher leiten Sie Ihr Inklusionsverständnis ab? Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ja doch recht vage.

Aichele: Die Konvention spricht klar von „einem inklusiven System“ und nicht noch einem Parallelsystem. Dafür, dass die UN-Behindertenrechtskonvention die Sondereinrichtungen nicht umfasst, spricht auch die Entstehungsgeschichte. Inklusion heißt: zusammen, von Anfang an, unabhängig von Art und Schwere der Beeinträchtigung. Gute Praxis zeigt, dass es sehr gut funktioniert.

News4teachers: Gibt es international überhaupt ein vorbildliches Bildungssystem in Sachen Inklusion?

Aichele: Es gibt weltweit gute Praxis. Tatsächlich arbeiten Schulen in vielen Ländern auf allen Kontinenten daran, dass gemeinsamer Unterricht besser gelingen kann. Von anderen können wir lernen. Es gibt aber auch sehr gute Schulen in Deutschland, die Inklusion seit Jahrzehnten leben. Dabei ist auch klar: Wir müssen am Verständnis für gute Praxis und gute Inklusion arbeiten. Diese hängt ab von guter Haltung, guten Konzepten, Bedingungen, Ausbildungen, Gesetzen, Netzwerken, gutem Erfahrungsaustausch, guter Beratung, guter Begleitforschung – und nicht zuletzt einem politischen Willen, der diese Entwicklungen unterstützt.

News4teachers: Wenn man die Bundestagsprotokolle bei der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention liest, wird deutlich, dass alle Parteien (bis auf die FDP) die Inklusion in der Schule als Sparmodell verstanden haben. Wie ist Ihr Eindruck – hat sich das geändert?

Aichele: Wer mit Inklusion politisch Erfolg haben möchte, muss Geld ausgeben beziehungsweise es richtig organisieren. Die Politik, die Inklusion als Anlass zum Sparen nimmt, ist zum Scheitern verurteilt. 2009 waren viele Ressourcen und Kompetenzen da, wer jedoch zwei Systeme – also neben der allgemeinen Schule die Sondersysteme – zu unterhalten plant, wählt die teuerste Variante. Das ist mittlerweile fast allen klar. Der Eindruck vom Sparmodell entsteht, weil die Politik in vielen Bundesländern davor zurückschreckt, Ressourcen zu verlagern und den gemeinsamen Unterricht in der Regelschule angemessen auszustatten. Der Weg von Segregation zu Inklusion – man spricht von Transformation – braucht eben zusätzliche Mittel.

News4teachers: Die Lehrer fordern fast einhellig eine Doppelbesetzung für den inklusiven Unterricht – das ist aber angesichts der Bereitschaft der Länder, sehr viel mehr Geld ins Bildungssystem zu stecken, eine Illusion. Müssen Sie hier nicht viel härter mit der Politik ins Gericht gehen – und massive Bildungsinvestitionen fordern?

Aichele: Wir nehmen Kritik gerne auf, diesen Punkt haben wir allerdings in der Vergangenheit schon angesprochen. Wir denken auch, dass mit der Behindertenrechtskonvention eine Prioritätenentscheidung für gute inklusive Bildung getroffen wurde, aus der noch nicht die Konsequenzen gezogen wurden. Aber ich wiederhole mich, wenn ich unterstreiche, dass Ressourcen nicht alles sind, sondern andere Faktoren eine erfolgreiche Inklusion bedingen.

News4teachers: Sachsen, genauer: die Stadt Chemnitz, hat gerade für 35 Millionen Euro eine neue Förderschule gebaut. Das wirft die Frage auf: Machen die Länder Inklusion nach Gutsherrenart?

Aichele: Neue Sondereinrichtungen zu schaffen, ist der falsche Weg. Die UN-Behindertenrechtskonvention sagt: Die Energie und die Ressourcen müssen in die allgemeine Schule und den Aufbau eines inklusiven Systems fließen. Was Sachsen macht, ist zweifelhaft und mit der UN-Konvention nicht vereinbar.

News4teachers: Was spricht gegen ein Elternwahlrecht zwischen Regelschule und Förderschule?

Aichele: Die Kinder, gleich ob mit oder ohne Behinderung, haben ein Recht auf inklusive Bildung. Das muss der Staat einlösen. Die Kinder haben aber nach der Behindertenrechtskonvention kein Recht auf Sonderschule. Gegen ein Elternrecht spricht, dass die menschenrechtliche Verantwortung, ein Systemwechsel hin zur Inklusion zu betreiben, einem „Elternwillen“ überantwortet wird. Das halten wir für problematisch.

News4teachers: Teilen Sie den Eindruck, dass die Inklusion in den Schulen durch das Thema Flüchtlingskinder aktuell ins Hintertreffen gerät?

Aichele: Dazu fehlt derzeit der Überblick. Klar ist: Wenn wir das inklusive Schulsystem schon hätten, dann wäre jetzt die Integration der Flüchtlingskindern um ein Vieles einfacher. Menschenrechtlich ist auch klar: Beide Gruppen dürfen nicht gegenseitig ausgespielt werden. Kinder, gleich ob mit oder ohne Behinderung, ob mit oder ohne Fluchterfahrung, haben ein Recht auf Bildung. Gesellschaftspolitisch treten wir dafür ein, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, zu der sich Deutschland mit der Konvention verpflichtet hat, durch andere sozialpolitische Fragen nicht aufgehalten werden oder ins Hintertreffen geraten darf.

 

Monitoring-Stelle
Deutschland hat sich mit der Annahme der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 auch dazu verpflichtet, eine unabhängige Stelle einzurichten, die den Prozess der Umsetzung überwacht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte wurde deshalb von der Bundesregierung beauftragt, die Einhaltung der Rechte von Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention zu fördern und die Umsetzung in Deutschland zu begleiten. Hierzu hat es die so genannte Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention eingerichtet.

Die unabhängige Monitoring-Stelle trägt unter anderem durch Forschung, Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit zur Förderung und zum Schutz der in der UN-Konvention verankerten Rechte bei. Die Stelle formuliert Empfehlungen an die Politiker, etwa an die Regierungen in Bund und Ländern, und gibt Stellungnahmen zu menschenrechtlichen Fragen ab. Die Monitoring-Stelle berichtet darüber hinaus dem UN-Ausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen über die Umsetzung der Konvention in Deutschland. Dieser internationale Fachausschuss überprüft in regelmäßigen Abständen die Umsetzung der Konvention. Dr. Valentin Aichele, leitet seit 2009 die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

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