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Die Gymnasien kommen nicht zur Ruhe – Umfrage zeigt klare Mehrheiten unter Eltern und Lehrern für G9

DÜSSELDORF. Die Gymnasien in Deutschland kommen nicht zur Ruhe. Eine Online-Umfrage unter Eltern von Gymnasiasten in Nordrhein-Westfalen hat eine deutliche Mehrheit von 88 Prozent für das neunjährige Gymnasium (G9) ergeben, bei Eltern von Grundschülern sogar von 93,4 Prozent. Auch unter Lehrern und Schulleitern gibt es eine klare Präferenz für G9. Damit erhöht sich gut ein Jahr vor der nächsten Landtagswahl in NRW der politische Druck auf die rot-grüne Landesregierung, eine Kehrtwende beim „Turbo-Abi“ zu vollziehen. „Wenn sich die Politik nicht bald bewegt, werden die Konsequenzen im Jahr 2017 auf dem Wahlzettel stehen“, droht bereits Marcus Hohenstein, Sprecher der Initiative „Abitur nach 13 Jahren an Gymnasien“. Auch in Bayern gewinnt das Thema G9 an Fahrt. Der regierenden CSU gelingt es offenbar nicht, breite Akzeptanz für ihr Kompromissmodell „Mittelstufe plus“ zu gewinnen.

Klare Kante: Die Mehrheit der Eltern in NRW ist gegen G8. Foto: Ian Burt / flickr (CC BY 2.0)

Trotz etlicher Reformbemühungen ist der Leistungsdruck auf G8-Schüler offenbar nach wie vor groß – zu groß? Gymnasiasten kommen nach Einschätzung ihrer Eltern im Schnitt auf eine 40-Stunden-Woche. Fast 30 Prozent der Gymnasiasten bekommen Nachhilfe – allerdings nur ein Drittel davon, weil die Versetzung gefährdet erscheint.

Offenbar wird von den meisten Bürgern das so genannte „Turbo-Abitur“ als Wurzel allen Übels angesehen: Die Mehrheit in Nordrhein-Westfalen gegen G8 jedenfalls ist eindeutig. Der Anteil kompromissloser G9-Befürworter – die also sich auf keinen Fall auf Mischlösungen wie schulspezifische Angebote zufrieden geben wollen – zeigt sich bei der Online-Umfrage mit fast 60 Prozent mehr als doppelt so hoch wie der kompromissloser G8-Befürworter (28,8 Prozent). Eine eindeutige Präferenz von G9 ist auch unter Schülern (79,3 Prozent), Eltern von ehemaligen Gymnasialschülern (88 Prozent), Grundschullehrern (95,8 Prozent), Gymnasiallehrern (88,2 Prozent), Lehrern anderer Schulformen (92,8 Prozent), Gymnasialdirektoren (70,2 Prozent), Grundschulleitern (79,1 Prozent) sowie Leitern aus anderen Schulformen (86,3 Prozent) festzustellen.

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Für kleinere Klassen

Wie die Umfrage nahelegt, könnte allenfalls ein bildungspolitisches Instrument dafür sorgen, die Akzeptanz von G8 zu erhöhen: nämlich die Personalstärke an den Gymnasien zu erhöhen. Die Klassen zu verkleinern (Zustimmung in Schulnoten: 1,48) und mehr pädagogisches Zusatzpersonal einzustellen (1,58) treffen auf höhere Sympathiewerte als eine Rückkehr zu G9 (2,4). Andere Reformideen wie „weniger Stoff durchnehmen“ (3,2) oder „weniger Hausaufgaben“ (3,49) oder „weniger Stunden als jetzt“ (3,53) stoßen auf deutlich geringere Zustimmung – waren zum Teil aber Ergebnisse eines Runden Tisches, den das NRW-Schulministerium mit Lehrer- und Elternverbänden (auch mit der Landeselternschaft der Gymnasien) im vergangenen Jahr gemeinsam veranstaltet hatte. Erst in der vergangenen Woche kündigte Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) an, die Umsetzung der Empfehlungen in den Gymnasien zunächst mittels einer Stichproble, später flächendeckend überprüfen zu wollen.

Eine deutliche Ablehnung erfährt dagegen eine Pflicht zum Ganztag: „Alle G8 Gymnasien in Ganztagsschulen umwandeln“ wird mit einer Durchschnittsnote von 4,49 bewertet – unterboten nur noch von dem (fiktiven) Vorschlag, „Teile der Allgemeinbildung auf Hochschulen und Unis zu verlagern“. Bemerkenswertes Nebenergebnis der Umfrage: Wer sein Kind in einer Schule mit gebundenem Ganztag hat, beurteilt den gebundenen Ganztag ähnlich schlecht wie jene, deren Kinder nicht in einer Schule mit verpflichtendem Ganztag sind.

Wie ließe sich der G8/G9-Streit lösen? Ein klares Votum der NRW-Eltern (das von Eltern in Sachsen, wo seit Jahrzehnten G8 problemlos praktiziert wird,  kaum geteilt werden dürfte), nämlich von 58,9 Prozent, für eine bundeseinheitliche Lösung, die für vier Fünftel eben bedeutet: G9 für alle Gymnasien in Deutschland. Durchaus interessant, wenngleich nicht ganz so beliebt, sind Kompromissmodelle: Eine Wahlmöglichkeit für jede Schule zuzulassen, hielten 41,9 Prozent der Befragten für sinnvoll, eine Wahlmöglichkeit für jeden einzelnen Schüler 40,3 Prozent, und ein Abitur nach acht Gymnasialjahren, aber mit Reformen und Veränderungen immerhin noch 31,1 Prozent.

Politische Konsequenzen

Warum ist so eine breite Mehrheit gegen das sogenannte Turbo-Abitur? Vermutet wird folgendes: Bei G8 kommt die Persönlichkeitsentwicklung zu kurz (Zustimmung in Schulnoten: 2,0), G8-Abiturienten sind persönlich weniger reif (2,2), G9-Abiturienten kommen im Studium besser zurecht (2,7). Eher abgelehnt werden folgende Statements: G8 Abiturienten werden schneller mit dem Studium fertig (4,29), die Rückkehr zu G9 wäre aufwendig und inkonsequent (4,65), G9-Abiturienten sind für die Eltern teurer (4,86).

Die Landeselternschaft der Gymnasien Nordrhein-Westfalen gehörte – wie der Philologenverband NRW – lange zu den unbedingten Befürwortern von G8. In letzter Zeit mehrten sich allerdings die Anzeichen für ein Umdenken. Angesichts dieses Umfrageergebnisses stellt sich die Frage, ob Deutschlands mitgliederstärkster Elternverband seine nunmehr „neutrale Haltung“ im G8/G9-Streit beibehalten kann – oder umschwenkt. Philologen-Landeschef Peter Silbernagel zeigte sich dann auch verärgert gegenüber der „Rheinischen Post“: „Warum die Landeselternschaft nun erneut das Fass G8/G9 aufmacht, ist uns ein Rätsel.“

Auch in Bayern ist die Diskussion wieder voll aufgeflammt, nachdem öffentlich wurde, dass an den 47 Pilotschulen, an denen die sogenannte Mittelstufe plus erprobt wird, sich in diesem Jahr mehr als 60 Prozent der Siebtklässler und damit noch einmal mehr Schüler als im vergangenen Jahr für die längere Variante entschieden haben. Die Vorsitzende der Landeselternvereinigung (LEV), Susanne Arndt, hat die CSU allerdings vor überstürzten Entscheidungen über die weitere Zukunft des Gymnasiums gewarnt. Zuerst müssten auf jeden Fall die Ergebnisse der zweijährigen Pilotphase für die Mittelstufe plus abgewartet werden, sagte Arndt auf Anfrage. „Man muss dann schauen: Was hilft den Schülern wirklich?“ Am Ende müsse jeder Schüler die Zeit bekommen, die er tatsächlich brauche. News4teachers

Zum Beitrag: Reaktionen auf die G8-Umfrage – Löhrmann warnt vor Schnellschüssen, Beckmann: Runder Tisch gescheitert

Zum Kommentar: Warum wir jetzt (auch mal wieder) über die Vorteile von G8 sprechen müssen

Die Umfrage
Die Befragung der Landeselternschaft der Gymnasien wurde durchgeführt von Prof. Rainer Dollase, Bildungsforscher von der Uni Bielefeld. An der Online-Umfrage beteiligten sich rund 35.000 Eltern (wobei interessanterweise vor allem die Mütter die Bögen bearbeiteten) sowie rund 14.000 am Thema interessierte Bürger ohne Kinder. Darüber hinaus beteiligten sich bei einer Umfrage per Post ergänzend rund 1.300 Bürger an der Erhebung. Die Organisatoren der Umfrage sprechen von einer „riesigen Resonanz“. In der Tat übertreffen die Rücklaufquoten vergleichbare Untersuchungen bei weitem, sodass von einer weitgehenden Repräsentativität der Ergebnisse ausgegangen werden kann.

 

 

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