MÜNCHEN. Medikamente zur Leistungssteigerung gehören mittlerweile selbst an Grundschulen zum Alltag vieler Kindern – sagt jemand, der es wissen muss: die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann. „Das ist ein gefährlicher Trend“, meint die ehemalige Leiterin einer Grund- und Mittelschule und Schulpsychologin. Sie berichtet: „Viele Kinder kommen sehr aufgeregt in die Schule – sie stehen regelrecht unter Strom. Vor allem an Prüfungstagen ist die Anspannung enorm.“ Um die Mädchen und Jungen zu beruhigen oder um ihre Leistungen zu verbessern, geben viele Eltern Medikamente. Auch ältere Schüler würden zur Tablette greifen, um dem Leistungsdruck gerecht werden zu können.
Oft sei es aber so, dass es der immense Erwartungsdruck der Eltern sei, der Kinder stresst. „Sie wollen gute Noten und das löst unglaublichen Druck aus.“ Gerade in der Grundschule und in der Unterstufe von Gymnasien und Realschulen seien Heranwachsende noch in einem Alter, wo sie die Eltern nicht enttäuschen, sondern mit guten Leistungen glänzen wollten. „Die Note Drei ist für viele Kindern eine Katastrophe, die Note führt zu Tränen und Verzweiflung. Es sei daher nicht verwunderlich, dass jedes sechste Kind bereits unter massiven Stresssymptomen leidet, wie Studien belegen.“
Fleischmann rät Eltern entschieden davon ab, Kindern Medikamente zur Konzentrationsförderung oder Leistungssteigerung zu verabreichen. „Die Einnahme von Medikamenten löst dauerhaft kein Lern- oder Lebensproblem“, betonte die BLLV-Präsidentin. Im Gegenteil: Häufig führe eine regelmäßige Einnahme solcher Medikamente dazu, dass Lernblockaden und Versagensängste verschärft und letztlich das Selbstwertgefühl der Betroffenen beschädigt würden. „Eltern sollten bedenken, dass Kinder sehr schnell das Gefühl entwickeln, den Alltags- und Schulstress ohne Medikamente überhaupt nicht mehr bewältigen zu können.“ Die Gefahr einer Abhängigkeit sei daher groß. Medikamente hätten zudem Nebenwirkungen zur Folge, die nicht zu unterschätzen seien.
„Wir müssen uns vielmehr kritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob die Mentalität des ‚schneller, höher, weiter‘ Kindern überhaupt zuträglich ist.“ Andauernde Überanstrengung sei nicht zielführend. „Eltern können viel tun, um ihr Kind zu unterstützen“, so Fleischmann. Sie könnten ihm helfen, eine gesunde und stabile Persönlichkeitsstruktur aufzubauen. Sie sollten ihm vor allem auch freie, unverplante Zeit gönnen – ohne Termine. Fleischmann forderte auch das bayerische Kultusministerium auf, Schule mehr auf die Bedürfnisse von jungen Menschen auszurichten. „Die Einnahme solcher Medikamente muss nicht nur unterbunden, sie muss überflüssig werden.“
Wie eine Studie unter Studenten ergab, nimmt jeder 20. verschreibungspflichtige Medikamente, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Psychostimulanzien oder Aufputschmittel ein, um die Studienanforderungen besser bewältigen zu können. Weitere fünf Prozent der Studierenden zählt die Studie zur Gruppe der „Soft-Enhancenden“, also Konsumenten von „weichen“ Mitteln wie Vitaminpräparaten, homöopathischen und pflanzlichen Substanzen, Koffein oder ähnlichem zur Leistungssteigerung. Die Anzahl der Arbeitnehmer, die selbst einräumen, verschreibungspflichtige Substanzen schon zum Doping missbraucht haben, ist laut DAK Gesundheitsreport stark gestiegen – von 4,7 (2008) auf 6,7 Prozent (2014). Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Womöglich nutzt jeder achte Arbeitnehmer leistungssteigernde Mittel. News4teachers
Zum Bericht: Trendwende? Erstmals seit 20 Jahren weniger Ritalin an Kinder verabreicht

