BERLIN. Die Rechtschreibreform sei „ein Flop“, meint der Germanist Uwe Grund. Er hat Schriftstücke von Schülern der Unterstufe (5. bis 7. Klasse) seit den 1970er-Jahren untersucht – und kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Reform äußerst negativ auf die orthografischen Leistungen ausgewirkt hat. Philologenverbands-Chef Meidinger widerspricht: Nicht die Rechtschreibreform sei die Ursache, sondern eine Bildungspolitik, die Orthografie seit 20 Jahren vernachlässige. Dass heutige Schüler tatsächlich beim Schreiben kaum mit den vorherigen Generationen mithalten können, bezweifelt er allerdings nicht. Doch: Ist das wirklich so? Bildungsforscher legen eine differenziertere Sicht nahe.
Schon 2008 hatte der heute emeritierte Professor Grund (Saarbrücken, heute Hannover) in einer umfangreichen Studie aufgezeigt, dass sich die Fehlerquote in Schülerdiktaten und -aufsätzen gegenüber der Zeit vor der Reform erhöht habe. Jetzt hat er nochmal die Datenbasis seiner Untersuchung erweitert – und kommt zum gleichen Ergebnis: Die durchschnittliche Fehlerzahl in Vergleichsdiktaten ist ihm zufolge von vier Fehlern in den 1970er-Jahren auf sieben Fehler in den 2000er-Jahren gestiegen. Grund meint laut Medienberichten, dass heute bei rund der Hälfte aller Schüler der 9. Klasse von „nicht ausreichenden“ Rechtschreibkenntnissen die Rede sein müsse. Die Rechtschreibreform, so Grund, treibe die Fehlerzahl nach oben.
Meidinger hingegen wirft der Bildungspolitik vor, den Rechtschreibunterricht in den Lehrplänen seit den 90er-Jahren systematisch zu vernachlässigen. Weil Rechtschreibung als Bildungsbarriere gelte, führe sie in manchen Bundesländern insbesondere in der Mittelstufe ein Randdasein. „Ich halte es für einen schweren Fehler, dass es Bundesländer gibt, in denen zumindest in bestimmten Jahrgangsstufen keine benoteten Rechtschreibdiktate mehr geschrieben werden dürfen“, kritisierte Meidinger.
Wichtiger: Lesekompetenz
Werden heutzutage tatsächlich zu wenige Diktate geschrieben? Nein, antwortet Nanna Fuhrhop, Sprachwissenschaftlerin am Institut für Germanistik der Uni Oldenburg, gegenüber dem „Tagesspiegel“. In der Deutschdidaktik habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es „pädagogisch nicht sinnvoll ist, Texte schreiben zu lassen, nur um den Schülern Fehler nachzuweisen“. Wichtiger sei die Lesekompetenz und das Textverständnis, das vor allem durch Schriftstücke gefördert werde, die Schüler selber verfassen. Diktate würden ihnen dagegen inhaltlich nichts vermitteln, betont die Professorin.
Ganz ausschließen, dass die Rechtschreibreform doch einen Einfluss auf den Unterricht hat, mag Furhop gleichwohl nicht: Sie beobachtet eine Verunsicherung bei vielen Lehrkräften. „Weil man sich selbst nicht mehr so sicher ist, wird eine korrekte Rechtschreibung von den Schüler nicht mehr unbedingt verlangt“, meint sie.
Auch was die Rechtschreibfähigkeiten von Schülern angeht, werden Zweifel an der Grund’schen These laut, dass heute bei der Hälfte der Neuntklässler von „nicht ausreichenden“ Leistungen gesprochen werden müsse. Petra Stanat, Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), verweist laut „Tagesspiegel“-Bericht auf einen Ländervergleich von 2009, bei dem auch die Orthografie-Kenntnisse von Neuntklässlern überprüft wurden, die den Mittleren Schulabschluss anstreben. Dabei seien zwar große Unterschiede zwischen den Bundesländern festgestellt worden, doch: Der Anteil derjenigen, die nicht einmal die Mindeststandards erfüllten, war überall vergleichsweise gering. In Berlin beispielsweise lag die Quote bei gerade mal 4,4 Prozent. „Das ist nicht so schlecht“, meint Professorin Stanat. Selbst bei Grundschülern ergab sich 2011 eine bundesweite Quote von 12,6 Prozent – ein Wert, fernab von „der Hälfte“, die Grund ausgemacht haben will.
Kein Selbstzweck
Auch der Bildungsforscher, Grundschulpädagoge und Schriftsprachdidaktiker Prof. Hans Brügelmann mag keinen Leistungsverfall beim Schreiben erkennen: Im Gegenteil, einige Untersuchungen für die Grundschule ließen zumindest für die letzten zehn Jahre „eher eine Leistungszunahme“ erkennen. Zudem müsse man sich vor Augen halten, dass Rechtschreibung eine „dienende Funktion“ im Rahmen einer umfassenden Schriftsprachkompetenz habe. Das Ziel, möglichst korrekt zu schreiben, dürfe andere Formen der Schriftsprache – wie das Lesen und Verfassen von Texten – nicht dominieren.
Im Klartext: Orthografie ist kein Selbstzweck. Brügelmann laut „Tagesspiegel“: „Wem nutzt es, Belanglosigkeiten oder inhaltlichen Unsinn orthografisch korrekt schreiben zu können?“ News4teachers
