BERLIN. Der Mitteldeutsche Rundfunk berichtete vor einigen Tagen allen Ernstes, dass die Rechtschreibreform eine neue Blüte hervorgebracht habe: Zwecks Vereinfachung der Schreibweise würden die beiden Wörter „seid“ und „seit“ künftig nicht mehr unterschieden. „Ab Beginn des neuen Schuljahres im Herbst ersetzt ein einheitliches ‚seidt‘ die beiden Formen“, hieß es. Natürlich eine Falschmeldung: Die Redakteure waren auf einen Satire-Beitrag der Webseite „Der Postillion“ hereingefallen. Der Fall zeigt allerdings, dass in puncto Rechtschreibung seit Beginn der Reform vor 20 Jahren fast alles für möglich gehalten wird. Ist die deutsche Orthografie (oder: Orthographie?) auf den Hund gekommen? Eine Studie des Germanisten Uwe Grund, die Schriftstücke von Schülern der Unterstufe (5. bis 7. Klasse) seit den 1970er-Jahren untersucht hat, scheint ein Scheitern der Reform nahezulegen.
Vor 20 Jahren beschlossen die deutschsprachigen Staaten eine Neuregelung der deutschen Rechtschreibung. Schließlich wurde der „Rat für deutsche Rechtschreibung“ unter der Leitung des ehemaligen bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair (CSU) damit beauftragt, die Fassung von 1996 noch einmal zu bearbeiten. Das daraus entstandene Regelwerk wurde dann am 1. August 2006 auch mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts, das empörte Kläger angerufen hatten, zur verbindlichen Grundlage des Unterrichts an Schulen erklärt.
Hälfte aller Schüler schreibt schlecht
Schon 2008 hatte der heute emeritierte Professor Grund (Saarbrücken, heute Hannover) in einer umfangreichen Studie nachgewiesen, dass sich die Fehlerquote in Schülerdiktaten und -aufsätzen gegenüber der Zeit vor der Reform erhöht hat. Jetzt hat er nochmal die Datenbasis seiner Untersuchung erweitert – und kommt zum gleichen Ergebnis: Die durchschnittliche Fehlerzahl in Vergleichsdiktaten ist von vier Fehlern in den 1970er-Jahren auf sieben Fehler in den 2000er-Jahren gestiegen. Grund meint laut Medienberichten, dass heute bei rund der Hälfte aller Schüler der 9. Klasse von „nicht ausreichenden“ Rechtschreibkenntnissen die Rede sein müsse.
Die Rechtschreibreform sei „ein Flop“, schlussfolgert Grund, der für seine Untersuchung auch weitere Studien zur Rechtschreibreform ausgewertet hat. Gerade beim „Herzstück der Reform“ – den Änderungen bei der Verwendung von „ß“ und „ss“ – hätten sich die Erwartungen „offensichtlich nicht erfüllt“, kritisiert der Experte. Bei der Unterscheidung der Wörter „das“ und „dass“ hätten „die Schüler, und nicht nur sie, mehr Probleme als früher“. Dabei habe hier überhaupt kein Änderungsbedarf bestanden.
Grund sagt einem Bericht der „Welt“ zufolge: „Auf dem Gymnasium musste eine Lehrerin sechs Klassenarbeiten mit einer durchschnittlichen Länge von 220 Wörtern durchsehen, um auf einen Fehler in Wortformen wie Naß, Nässe (jetzt Nass, Nässe), wußten (jetzt wussten) und ähnlich zu stoßen.“ Das habe sich mit der Reform geändert. Die neue s-Schreibung erweise sich als Fehlerfalle und treibe die Fehlerzahl um durchschnittlich 20 bis 30 Prozent in die Höhe. Verwirrung und eine „völlig neue Fehlerkategorie“ gebe es vor allem bei Wörtern mit einfachem Silbenschluss-“s”. So komme es vermehrt zu Wortschöpfungen wie “Sarkassmus”, “Kommunissmus”, “Nazissmus” (in Anlehnung an “Narzissmus”), und zwar umso mehr, je weniger die alten “ß”-Schreibweisen (“Narzißmus”) noch in Erinnerung seien.
Ist also die Rechtschreibreform gescheitert? Der Rat für deutsche Rechtschreibung beantwortet die Frage anders als Kritiker Grund. „Die Ergebnisse der Schreibbeobachtung zeigen“, so heißt es in einer aktuellen Pressemitteilung, „dass zehn Jahre nach Inkrafttreten des Regelwerks – einschließlich der vom Rat erarbeiteten Änderungen – der beobachtete Gebrauch und die kodifizierte Norm im hohen Maße übereinstimmen. Dies gilt auch für Regelungen, die durchaus umstritten waren, so beispielsweise für die mit der Reform eingeführte, an formalen Kriterien orientierte Großschreibung, zu der Fälle wie ‚im Folgenden‘ oder ‚des Öfteren‘ zählen.“ Im Klartext: Die Rechtschreibreform ist im Alltag und in den Schulen angekommen.
Meidinger: Jungen lesen zu wenig
Wie aber erklärt sich die beobachtete Zunahme von Schülerfehlern? Die Hauptursache sieht Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands, darin, „dass wir es insbesondere bei den meisten Jungen mittlerweile mit einer Generation von Jugendlichen zu tun haben, die kaum mehr liest“. Ohne intensives Lesen erwerbe man aber auch keine ausreichende Rechtschreibkompetenz, betonte Meidinger, selbst Leiter eines Gymnasiums in Bayern.
Der Bildungspolitik wirft Meidinger vor, den Rechtschreibunterricht in den Lehrplänen seit den 90er-Jahren systematisch zu vernachlässigen. Weil Rechtschreibung als Bildungsbarriere gelte, führe sie in manchen Bundesländern insbesondere in der Mittelstufe ein Randdasein. „Ich halte es für einen schweren Fehler, dass es Bundesländer gibt, in denen zumindest in bestimmten Jahrgangsstufen keine benoteten Rechtschreibdiktate mehr geschrieben werden dürfen“, kritisierte Meidinger. In keinem anderen europäischen Land werde dem muttersprachlichen Unterricht in den Stundentafeln so wenig Platz eingeräumt.
PS. Orthografie oder Orthographie – beides ist laut Duden richtig.
Agentur für Bildungsjournalismus
Was nach der Rechtschreibreform am häufigsten falsch geschrieben wird (zusammengestellt von der Duden-Redaktion):
- “spazierengehen” (richtig: spazieren gehen)
- “Fluß” (richtig: Fluss)
- “des weiteren” (richtig: des Weiteren)
- “im vorraus” (richtig: im Voraus)
- “Email” (richtig: E-Mail)
