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Ist das die Lösung im G8/G9-Streit? Alsdorfer Gymnasium geht neuen Weg: Lernen in eigenem Tempo – ein Ortsbesuch

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ALSDORF. Während die Politik über das «Turbo-Abi» diskutiert, hat ein Gymnasium bei Aachen andere Ideen. G8 oder G9 spielt dabei nicht die Rolle. Wichtig ist das persönliche Tempo der Schüler. Morgen kommt NRW-Schulminister Sylvia Löhrmann (Grüne) mit Journalisten zu Besuch. Wir waren schon mal da.

Auch musische Bildung wird am Gymnasium in Alsdorf großgeschrieben. Foto: Theodor Barth / Deutscher Schulpreis

Die drei Schüler sitzen ganz vorne in der ersten Reihe des Klassenraums und schauen in ein Marmeladenglas mit zehn Mehlwürmern. «Sehen ganz gut aus», meint der elfjährige Fabian. Die Drei müssen sich um die Würmer kümmern, deren Entwicklung beobachten und protokollieren. Danach hat Fabian Zeit für Französisch. Die Jungs sind in einem Unterricht der ganz anderen Art.

11.20 Uhr im Gymnasium Alsdorf bei Aachen: Es ist die Zeit der «Dalton-Stunde» für die rund 670 Schüler. Die Jahrgangsstufen mischen sich. Schüler entscheiden, zu welchem Lehrer sie gehen und an welchen komplexen Inhalten sie selbstständig arbeiten. «In der Dalton-Stunde kann sich jeder Schüler seine Zeit einteilen», sagt Schulleiter Wilfried Bock.

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Rund ein Drittel des Unterrichts besteht aus so genannten Dalton-Stunden, benannt nach der amerikanischen Pädagogin Helen Parkhurst (1887–1974). Wem Englisch im Unterricht leichter fällt und der schnell fertig ist, hat in der Dalton-Stunde mehr Zeit etwa für das ungeliebte Mathe. Die Schüler gehen ihr eigenes Tempo.

Das Gymnasium Alsdorf gehörte 2013 zu den Preisträgern beim Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Foto: Theodor Barth / Deutscher Schulpreis

Im individuellen Tempo sieht Bock einen entscheidenden Faktor für den Lernerfolg. «Ein erfolgreicher Schüler hat immer Zeit. Ein langsamer Schüler wird mit der Zeit zum schlechten Schüler», umschreibt Bock die Situation an herkömmlichen Schulen. Denn der langsame Schüler brauche mehr Zeit, und seine Lernlücken würden so immer größer. In den flexiblen Stunden könnten die Schüler sich Zeit nehmen und nachfragen. Und falls das immer noch nicht reicht: Es gibt auch Förderung in Kleingruppen.

Wie viele private Nachhilfestunden durch dieses System wegfallen, weiß Schulleiter Bock nicht. Aber für ihn ist die verschwindend geringe Quote der Sitzenbleiber von 0,5 Prozent aussagekräftig. Auch die Entwicklung bei den Anmeldungen sprechen eine eigene Sprache: Früher stand mal die Schließung der Schule wegen sinkender Anmeldungen im Raum, gibt es jetzt Wartelisten.

2013 hat das Gymnasium für sein Konzept den Deutschen Schulpreis bekommen. Seitdem kommen pro Jahr bis zu 600 Besucher von Schulen aus dem deutschsprachigen Raum, um sich zu informieren. Schlagzeilen machte die Schule auch mit der Einführung der Gleitzeit für Oberstufenschüler. In der Diskussion über das «Turbo-Abi bezeichnete NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das Alsdorfer Gymnasium als «Vorreiter für flexibles Lernen». Sie will die Schule am Dienstag mit Journalisten besuchen.

Die 17-jährige Melina hat mit Bio keine Probleme. Bio interessiert sie. Außerdem steht bald eine Klassenarbeit an. In der letzten Stunde war die Photosynthese dran. «Wer das intensiver haben möchte, kann kommen», hatte Bio-Lehrer Martin Wüller angeboten. Nun sitzt Melina mit Wüller am Tisch und taucht in die Photosynthese ab.

Dieses flexible Lernen hat auch Überfliegern wie dem Ass in Physik geholfen. Wo Mitschüler mit dem Nachdenken erst anfingen, war der Junge schon fertig. Auf Anregung der Schule besuchte er zeitweise Vorlesungen und Seminare an der Aachener Uni, schrieb dort sogar erfolgreich Arbeiten. Den verpassten regulären Schulstoff holte er in den Dalton-Stunden nach.

«Turbo-Abi» oder nicht? Für Schulleiter Bock geht es in der politischen Diskussion um mehr. Der Unterricht habe sich in den vergangenen 150 Jahren so gut wie nicht verändert. «Es ist eine große gesellschaftliche Aufgabe, Schule neu zu lernen», sagt er. Von Elke Silberer, dpa

Zum Bericht: Ist das die Lösung im verfahrenen G8/G9-Streit? Löhrmann schlägt eine individuelle Schulzeit vor – jedes Kind lernt im eigenen Tempo

 

Hintergrund: Dalton-Pädagogik

“Zwei Mal am Tag geben die Schulstunden am Gymnasium Alsdorf ein eigentümliches Bild ab: Die Schüler entscheiden selbst, wo sie arbeiten, also mischen sich alle Jahrgangsstufen – vom Fünftklässler bis zum Abiturienten – in den Unterrichtsräumen. Damit nicht genug: Die Schüler wählen auch selbst, woran sie arbeiten. Das Schüler-Potpourri ist auch möglich, weil es keine ‘Klassenzimmer’ mehr gibt. Die Räume sind grundsätzlich Lehrern zugeordnet. In normale Unterrichtsstunden pilgern die Schüler als Klassen- und Kursverbände zu ihnen. In den sogenannten ‘Daltonstunden’ ist die Stufen- und Fächertrennung aufgehoben. Es trudelt ein, wer will”, so heißt es in einem Porträt des Gymnasiums Alsdorf für den Deutschen Schulpreis.

Der Dalton-Unterricht wurde von der US-amerikanischen Lehrerin Helen Parkhurst (1887–1974) entwickelt: Als sehr junge Lehrerin sollte sie in einer Landschule Kinder zwischen 4 und 14 Jahre in einer Klasse unterrichten. Ihr war klar, dass sie den Ansprüchen der einzelnen Schüler mit dem klassischen Unterricht nicht gerecht werden könnte. Sie entwickelte eine Unterrichtsform, in der Kinder Inhalte eigenständig und auch in Gruppen erarbeiten konnten.

Das Gymnasium Alsdorf war nach eigenen Angaben die erste deutsche Schule, die diese Form konsequent umsetzte. Kernpunkte sind Freiheiten, eigene Wege beim Lernen zu finden, Verantwortung zu übernehmen, Selbstständigkeit und Zusammenarbeit. Der vom Alsdorfer Gymnasium gegründeten Dalton Vereinigung Deutschland gehören mittlerweile 26 Schulen an.

Hier geht es zum Porträt des Gymnasiums Alsdorf auf der Seite des Deutschen Schulpreises.

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