WIESBADEN. Der reformierte Lehrplan zur Sexualerziehung mobilisiert Eltern auch in Hessen. Gleich zwei Demonstrationszüge formierten sich am Sonntag in der Landeshauptstadt – einer gegen und einer für die Reform. Der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen lobt die Lehrplan-Gegner für ihr Engagement.
Weitgehend friedlich haben am Sonntag in Wiesbaden mehrere Tausend Menschen für und gegen den neuen Lehrplan zur Sexualerziehung an den hessischen Schulen demonstriert. Die Polizei berichtete am Nachmittag von jeweils bis zu 1500 Teilnehmern an zwei getrennten Kundgebungen. Zwei Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt. Mehrere hundert Demonstranten versuchten, den Zug der Lehrplan-Gegner mit einer Sitzblockade zu verhindern. Deren Veranstalter mussten deshalb die geplante Route verkürzen. Mehr als 1000 Polizisten waren im Einsatz.
Die Polizei berichtete von einigen Rangeleien aus dem Demonstrationszug der Lehrplan-Befürworter, als einige Teilnehmer die vorgegebene Strecke verlassen wollten. Auch seien Beamte mit Gegenständen beworfen und angegriffen worden, unter anderem mit Regenschirmen. Die «Frankfurter Rundschau» berichtete online, eine ihrer Mitarbeiterinnen sei bei einer Rangelei verletzt worden und habe ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Zudem wurde laut Polizei nach den Demonstrationen ein Autoinsasse verletzt, weil ein Pflasterstein das Fahrzeug traf. Nähere Angaben dazu konnte die Polizei zunächst nicht machen, der Vorfall werde aufgeklärt, sagte eine Sprecherin. Insgesamt waren bis zu 6000 Demonstranten erwartet worden.
Der aktualisierte Lehrplan sieht als Ziel die Akzeptanz sexueller Vielfalt vor und damit einen diskriminierungsfreien Umgang auch mit Homo-, Trans- oder Bisexualität. Er ist bereits seit September in Kraft. Kultusminister Alexander Lorz (CDU) hatte erklärt, der Lehrplan sei in einem Routinevorgang an die geänderten gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst worden.
An der Kundgebung für den Lehrplan nahmen nach Angaben der Veranstalter bis zu 3000 Menschen teil. Aufgerufen hatte das «Bündnis für Akzeptanz und Vielfalt» aus mehr als 100 Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und Initiativen. Redner forderten, «schwul» dürfe kein Schimpfwort mehr an den Schulen sein, der Unterricht müsse ein diskriminierungsfreier Ort sein. Die Kundgebung der Gegner des Unterrichts sei ein «Angriff auf die freie Gesellschaft».
“Demo für alle” gegen den Lehrplan
Die Gegner des Lehrplans trafen sich vor dem Kultusministerium, die Organisatoren zählten rund 1900 Teilnehmer. Veranstalter war das konservative Aktionsbündnis «Ehe und Familie», das bereits in Baden-Württemberg gegen ähnliche Änderungen des dortigen Bildungsplans mobilisiert hatte und aktuell auch in Bayern aktiv ist. „Ehe bleibt Ehe“ steht auf ihren Schildern und „Stoppt Gender”. Die Organisatorin, Hedwig von Beverfoerde, kündigte dauerhaften Widerstand gegen den neuen Lehrplan an. Beverfoerde distanzierte sich von rechtsextremen Gruppierungen, die ihr Kommen angekündigt hatten.
Auf der Facebook-Seite der “Demo für alle” hieß es “aus gegebenem Anlass”: “Parteien und Gruppierungen wie die NPD, „Dritter Weg“ und andere Rechtsextreme sind auf unser Demo nicht willkommen! Wir fordern diese Gruppierungen auf, Aufrufe aus ihren Reihen zur Beteiligung an der Demo für alle am 30. Okt. in Wiesbaden zu unterlassen und unserer Demonstration fernzubleiben.” Trotzdem gebe es Medienberichte, wonach einzelne NPD-Mitglieder in der Demonstration präsent gewesen seien. “Wir bedauern das sehr”, so schreiben die Organisatoren.
Im Vorfeld hatte der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen ein Grußwort an die Demonstranten geschickt: „Sie zeigen heute, dass Ihnen die Sexualerziehung von Kindern und Jugendlichen nicht gleichgültig ist, dass Sie Ihre Verantwortung als Christen wahrnehmen. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken und erteile Ihnen gerne meinen bischöflichen Segen.“ Für ihn sei es “ein Schock” gewesen, dass Kultusminister Lorz (CDU) durch einen Ministererlass den neuen Lehrplan in Kraft gesetzt „und sowohl das Votum des Landeselternbeirates als auch die Stellungnahme der katholischen Bischöfe in Hessen ignoriert hat“.
Der Landeselternbeirat hatte zwar Kritik an einzelnen Punkten des Lehrplans geübt, sich aber von der “Demo für alle” distanziert. Vonseiten der evangelischen Kirchen in Hessen war der Lehrplan begrüßt worden. N4t/ mit Material der dpa
Zum laufenden Schuljahr hat das hessische Kultusministerium einen neuen Lehrplan erlassen, mit dem mehr Offenheit für sexuelle Vielfalt erreicht werden soll. Im Unterricht sollen Homo-, Trans-, Inter- und Bisexualität so thematisiert werden, dass die Akzeptanz gefördert und Diskriminierung vorgebeugt wird. Die Vorschriften stoßen nicht überall auf ein positives Echo. Der Landeselternbeirat kritisierte das Ziel der «Akzeptanz» als zu weitgehend und sprach sich stattdessen für den Begriff «Toleranz» aus. Anbei Fragen und Antworten zu dem Sexualkunde-Lehrplan:
Was ist für die einzelnen Altersstufen vorgesehen?
Sechs- bis Zehnjährige sollen neben den körperlichen Unterschieden von Männern und Frauen unter anderem Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften als Konzepte kennenlernen. Für ältere Schüler kommen dann auch «unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identitäten» als Stoff hinzu. Dies soll neben den anderen Themen der Sexualerziehung in den folgenden Klassenstufen weiter vertieft werden, auch «Unterstützung beim Coming Out» ist vorgesehen.
Wie fielen die ersten Reaktionen aus?
Der Lehrplan wurde per Ministerentscheid in Kraft gesetzt. Dies nährte neben der Kritik am Wort «Akzeptanz» Vorwürfe, Minister Alexander Lorz (CDU) sei heimlich vorgegangen. Das Ministerium erklärt, es habe sich um einen Routinevorgang gehandelt. Zudem seien unter anderem Vertreter von Eltern, Lehrern und Kirchen dazu angehört worden. Auch inhaltlich sieht Lorz keinen Grund für Kritik. Der Lehrplan sei die Konsequenz aus der geänderten gesellschaftlichen Realität. Die letzte Aktualisierung stammt aus dem Jahr 2007. Ultrakonservative und rechtspopulistische Gruppen lehnen den Lehrplan als indoktrinierend ab.
Was sagen Experten?
Hessen habe eine Entwicklung nachvollzogen, die in anderen Bundesländern bereits geschehen sei, sagt der Frankfurter Professor und Sexualpädagoge Stefan Timmermanns. Die Themen Homo-, Bi- und Transsexualität kämen ohnehin über das Internet und das Fernsehen zu den Kindern und Jugendlichen. Im Unterricht könnten dann pädagogisch angemessen Fragen dazu behandelt werden. Die Sexualwissenschaftlerin Karla Etschenberg kritisierte in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», dass das Thema «Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten» zu stark gewichtet worden sei. Andere Themen kämen dadurch zu kurz.
Wie sehen die Lehrer den neuen Lehrplan?
Die Landesvorsitzende des Lehrerverbands, Edith Krippner-Grimme, sagt, es seien noch einige Fragen offen. Beispielsweise, wie die Umsetzung in den Klassen und einzelnen Fächern tatsächlich laufen solle. Und wer entscheide, in welcher Altersstufe nun genau welcher Inhalt unterrichtet werden solle. Zudem sei zu befürchten, dass diese Abstimmung darüber und die anstehenden Elternabende als Zusatzarbeit auf die Schulen und Lehrer zukämen.
Wie geht es nun weiter?
In Elternabenden sollen die Ziele, Inhalte sowie Lehr- und Hilfsmittel des Unterrichts vorgestellt werden. Der Landeselternbeirat empfiehlt, diese Informationsveranstaltungen aktiv einzufordern. Transparenz nehme Ängste, sagt auch der Sexualpädagoge Timmermanns. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern wie etwa Baden-Württemberg, wo es schon um den Entwurf des Lehrplans heftige Diskussionen gab, sind die neuen Vorschriften in Hessen vor Wochen in Kraft gesetzt worden. Änderungen sind also nicht mehr zu erwarten.